Besteht die Bundesrepublik die Weimarer Probe? Was vor 105 Jahren mit der damaligen Verfassung begann, was vor 75 Jahren für das Grundgesetz daraus folgte – und was mit Blick auf die AfD heute notwendig ist.

Von Heribert Prantl, München

Die Weimarer Verfassung war nicht, wie heute oft behauptet wird, ein Murks, sondern ein Glanzstück. Es stehen darin Artikel, die man heute noch mit Respekt und Stolz zitieren mag; zum Beispiel der: „Die Ordnung des Wirtschaftslebens muss den Grundsätzen der Gerechtigkeit mit dem Ziele der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle entsprechen.“

So ein Satz stünde auch dem Grundgesetz nicht schlecht an. Beide Verfassungen feiern jetzt Jubiläum, das Grundgesetz wird im Mai 75 Jahre alt. Und vor genau 105 Jahren, am 6. Februar 1919, haben die Arbeiten an der Weimarer Verfassung begonnen. In Weimar trat damals die verfassungsgebende Deutsche Nationalversammlung zusammen. In Weimar deswegen, weil das Städtchen weit weg war von den revolutionären Unruhen der großen Städte nach dem Ende des Ersten Weltkriegs. Ganz Deutschland blickte vor 105 Jahren nach Weimar. Es begann die Geburt der ersten Demokratie auf deutschem Boden.

Die Weimarer Verfassung war ihrer Zeit voraus

Die dort geschriebene Weimarer Verfassung war eine bemerkenswert gute Verfassung, aber die Zeiten, in denen sie Geltung hatte, waren bemerkenswert schlecht. Die Weimarer Verfassung war modern, sie war aufklärerisch, sie war emanzipatorisch; sie brachte das Frauenwahlrecht, sie war ihrer Zeit voraus. Wenn das Grundgesetz nicht 1949, sondern schon 1919 in Kraft getreten wäre – hätte es die Kraft gehabt, Hitler zu verhindern?

Auch für das Grundgesetz hätte dann der Satz des Staatsrechtlers Hugo Preuß gegolten, der in der Weimarer Republik der erste Innenminister war und ihre Verfassung wesentlich mitgeprägt hat: Es tauge, so sagte er, auch die beste Verfassung nicht, „wenn sie von ihren Vollstreckern falsch oder dilettantisch angewendet wird“.

Juristen sprechen gern von einem „Verfassungskörper“. Wenn es einen solchen Verfassungskörper gibt, dann hat eine Verfassung auch einen Hals. Und am Hals der Weimarer Verfassung hingen zentnerschwere Mühlsteine.

Die erste deutsche Republik wurde traktiert von putschenden Militärs, von einer irrsinnigen Inflation und von blutigen Auseinandersetzungen zwischen Links- und Rechtsradikalen; der Versailler Vertrag schnürte ihr die Luft ab. Und es gab zu viele Parteien, deren Ziel der Sturz der Republik war. In den knapp 14 Jahren bis Hitler gab es 19 Regierungswechsel. Die parlamentarische Möglichkeit, den Kanzler zu stürzen, ohne gleichzeitig einen Nachfolger wählen zu müssen, wurde bis zum Exzess ausgenutzt. Das Grundgesetz hat daraus gelernt; es hat das konstruktive Misstrauensvotum eingeführt: Ein Bundeskanzler kann nur gestürzt werden, wenn zugleich ein neuer gewählt wird.

Das Verbot als Schutz vor Verfassungsfeinden

Am Hals der bundesdeutschen Demokratie hängt auch ein Mühlstein; er wird immer schwerer. Er heißt AfD. Das weitere Schicksal der Republik wird auch davon abhängen, ob und wie es ihr gelingt, diesen Mühlstein loszuwerden. Das ist eine „Weimarer Probe“. Nicht nur Deutschland, auch Europa und die europäische Verfassungsordnung müssen, gewürgt von den Nationalisten und den populistischen Extremisten, eine solche Probe noch bestehen. Brüssel darf nach den Europawahlen im Juni nicht das neue Weimar werden.

In der Weimarer Verfassung steckte schon die Vision einer freien und solidarischen Bürgergesellschaft. Die Weimarer Republik scheiterte aber dann daran, dass es zu wenige solcher Bürger gab. Das ist heute anders – und die großen Demonstrationen gegen die AfD an so vielen Orten der Republik zeigten und zeigen das. Und es gibt heute ein Bundesverfassungsgericht, das die demokratische Verfassung mit Verve schützt und verteidigt.

Die Regierungsparteien und die CDU/CSU-Opposition überlegen gerade, wie es zu verhindern ist, dass die AfD, wenn sie 33 Prozent erreicht, die Arbeit des Verfassungsgerichts sabotieren kann. Dieser Schutz der Arbeit des Verfassungsgerichts ist wichtig und notwendig; wie sehr, das hat sich zuletzt in Polen gezeigt. Wäre es aber nicht noch wichtiger, zugleich zu überlegen, wie man nicht nur das Bundesverfassungsgericht, sondern die gesamte Demokratie vor Verfassungsfeinden schützt – durch ein Verbot der gesamten AfD oder zumindest durch ein Verbot ihrer radikalsten Landesverbände?

Der humanistische und der preußische Geist

Damals, vor 105 Jahren, beschwor die Nationalversammlung den Geist von Weimar. Sie meinte die aufklärerischen und humanistischen Traditionen, für die die Dichter der deutschen Klassik, für die Goethe, Schiller und Herder stehen. Reichspräsident Friedrich Ebert legte deshalb zu Beginn der Beratungen am Goethe-Schiller-Denkmal einen Kranz nieder: „Genius loci“ stand auf der Schleife.

Die Weimarer Zeitung freilich wollte sich auf den humanistischen Geist nicht verlassen und forderte auch den preußischen Geist, den „Geist von Potsdam“, womit sie sich auf die Militärtradition des Soldatenkaisers Friedrich Wilhelms I. und des Alten Fritz, also Friedrichs des Großen, bezog. Dieser Geist war ein antidemokratischer Geist, einer, der dem Kult von militärischer Stärke und autoritärem Führertum huldigte: „Wir möchten den ‚Geist von Potsdam‘ als die männliche Seite unseres Charakters und den ‚Geist von Weimar‘ als die weibliche Seite bezeichnen. Wo aber die eine Seite allein herrscht, die andere verkümmert ist, da gibt es keinen guten Klang.“

Die Missklänge in der Weimarer Republik hatten dann damit zu tun, dass es zu viel von dem gab, was die Zeitung den „Geist von Potsdam“ genannt hatte. Eine Neuauflage des Potsdamer Geistes braucht die Bundesrepublik gewiss nicht. Der Geist von Weimar sollte sich heute besser entfalten können als damals, vor einem Jahrhundert.

 


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