Guten Tag,

was hilft das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung, wenn man keine hat und keine findet? Und was hilft dieses Grundrecht, wenn das Wohnen so teuer ist, dass man es sich nicht leisten kann? Das Bundesverfassungsgericht hat sich diese Fragen bei seiner Entscheidung über den Mietpreisdeckel in Berlin nicht gestellt. Es hat den Berliner Mietpreisdeckel einfach weggeworfen, ohne sich um dessen Sinn und Zweck und um dessen Grundanliegen zu kümmern.

Nicht Muh, nicht Mäh

Das höchste deutsche Gericht hat den Deckel entsorgt, den das Land Berlin, in dem die Mieten horrend steigen, produziert hatte. Karlsruhe war der Meinung, dass für so einen Deckel das Land nicht zuständig ist, dass der Bund ihn produzieren müsste. Ob dieser Deckel passt, wie dieser Deckel passt, ob er zu groß oder zu klein oder objektiv untauglich ist, ob und wo und wie und wann so ein Deckel helfen könnte, um die Mietpreisexplosionen in Berlin zu stoppen – die höchsten Richterinnen und Richter sagen zu all dem weder Muh noch Mäh. Das, was sie zur Zuständigkeit schreiben, ist nachvollziehbar; aber war es auch zwingend, hier Schluss zu machen? Wie die gewaltigen Probleme auf dem Wohnungsmarkt zu lösen sind – dafür hat sich das Bundesverfassungsgericht anscheinend nicht interessiert. Es hat das Berliner „Mietdeckel-Gesetz“ einfach formal vom Tisch gewischt. Kurzum: Es ist dies eine unbefriedigende, ja ärgerliche Entscheidung.

Was man nicht links liegen lassen darf

„Eigentum verpflichtet.“ Das ist ein zentraler Satz des Grundgesetzes; er ist das Fundament des deutschen Sozialstaats. Es ist dies ein Satz, an dem man nicht vorbeischreiben, den man nicht links liegen lassen darf, wenn es um die Wohnungsnot geht. Es reicht daher nicht, wenn das Verfassungsgericht sich in seiner Entscheidung mit Akribie um die Kompetenzordnung im föderalen Staat kümmert. Eigentum verpflichtet. Der Satz kann auch dazu verpflichten, diese Kompetenzordnung bürgernah und gemeinwohldienlich auszulegen.

Das Eigentum wird gewährleistet. Das ist der eine Satz des Grundgesetzes. Der zweite: Eigentum verpflichtet. Das Verfassungsgericht hätte dem Wohl der Allgemeinheit dienen können, wenn es ein paar Wegweiser aufgestellt hätte, wie dieses Allgemeinwohl im Wohnungswesen und im Mietrecht verwirklicht werden kann. Eigentum verpflichtet: Wenn dieser Satz in den vergangenen zwanzig Jahren geachtet worden wäre, wären Wut und Zorn der Mieter nicht so groß. In einer früheren Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt: „Die Privatwohnung ist als letztes Refugium ein Mittel zur Wahrung der Menschenwürde.“ Dies zeigt das Gewicht der Fragen, um die es geht – und die das Verfassungsgericht diesmal nicht beantworten, ja nicht einmal ansprechen wollte.

Die steigenden Wohnkosten sind ein Armutsrisiko

Viele der deutschen Mietervereine sind oder werden derzeit hundert Jahre alt. Sie wurden gegründet oder wiedergegründet als alles im Umbruch war in Deutschland, als die Weimarer Demokratie zu leben versuchte und es nicht richtig schaffte. Das waren die Jahre, in denen rührige Gewerkschafter in die Gaststätte zur Rose oder in den Weißen Hirschen einluden, um mit einem Verein das zu erreichen, was in der Weimarer Verfassung versprochen war: „Jedem Deutschen eine gesunde Wohnung und allen deutschen Familien, besonders den kinderreichen, eine ihren Bedürfnissen entsprechende Wohn- und Wirtschaftsstätte.“ So stand es in Artikel 155 der Weimarer Verfassung vom 11. August 1919.

Gäbe es die Mietervereine nicht schon, man müsste sie erfinden und gründen. Die Situation auf dem sogenannten Wohnungsmarkt ist so, dass das Wort angespannt ein sehr verharmlosendes, ein fast zärtliches Wort ist. Deshalb organisiert das „Bündnis Mietenwahnsinn“ bundesweit Proteste.

Sozialverbände warnen, dass die steigenden Wohnkosten ein Armutsrisiko darstellen. Über eine Million Haushalte in den Großstädten haben schon jetzt nach Abzug der Miete weniger Geld zum Leben, als wenn sie den Hartz-IV-Regelsatz bekämen. In Berlin sagt fast jeder zweite Mieter, dass er Angst hat, sich seine Wohnung bald nicht mehr leisten zu können.

Diese Menschen zahlen die Quittung für einen politischen Grundfehler. Viele Städte und Länder haben, getrieben von Geldnot, dem langjährigen neoliberalen Zeitgeist und der unseligen Schuldenbremse, Zehntausende von Wohnungen in ihrer öffentlichen Hand an private Investoren verkauft. Wer, wie die Stadt München, am „kommunalen Eigenbestand“ festhielt, galt als hoffnungslos antiquiert. Privatisierung war das tückische Zauberwort; je weniger Staat, desto besser, hieß es. Das war falsch, gefährlich falsch.

Goldgrube für Spekulanten

Die verscherbelten Häuser fallen oder fielen aus der Sozialbindung; und dann will der Investor, was sein Recht ist, Geld sehen –­­ zu Lasten der Mieter. In den vergangenen dreißig Jahren verminderte sich der Bestand an Sozialwohnungen von gut vier Millionen auf deutlich weniger als 1,5 Millionen. Geblieben aber sind die Menschen, die solche Wohnungen brauchen – und es sind noch welche dazugekommen, wie Flüchtlinge und dringend gesuchte ausländische Arbeitskräfte. So viele Kranken- und Kinderpflegekräfte suchen Wohnungen; Sozialpädagogen suchen, Reinigungskräfte suchen, so viele Friseure, Bäcker und Lieferanten suchen, alle anderen schlecht bezahlten Arbeitenden suchen auch – und sie und ihre Familien brauchen die Wohnungen nicht irgendwo, sondern dort, wo Arbeit ist.

Die Zahl der verfügbaren Sozialwohnungen ist in den vergangenen Jahren drastisch gesunken, obwohl die Zahl der Anspruchsberechtigten steigt. Es werden viel zu wenige Wohnungen gebaut. Es fehlt in erster Linie an bezahlbarem Bauland. Die steigenden und horrenden Grundstückspreise sind der zentrale Grund, warum die Mieten und das Bauen so teuer geworden sind. Eine Neuordnung des Bodenrechts ist daher kein kommunistischer oder sozialistischer Unfug, sondern eine Notwendigkeit. Die Bodenreform ist ein wohnungsbaupolitisches Thema und eines der Gerechtigkeit. Keinem anderen Thema wird schon so lange Unaufschiebbarkeit attestiert, seit über einem Jahrhundert. Und kein anderes Thema wird schon so lange aufgeschoben.

Eine Stadt muss anders funktionieren als Wetten auf Schweinehälften. Eine Stadt muss ein Gemeinwesen bleiben, sie darf nicht Goldgrube für Spekulanten sein. Es ist wichtig und notwendig, für ein gutes Gemeinwesen zu demonstrieren – gegebenenfalls auch dadurch, dass man zum Demonstrieren gegen die Mietendeckel-Entscheidung Topf-Deckel mitbringt und aufeinander haut. Lärmdemo nennt sich das.

„Enteignung. Jetzt erst recht!“

Die Karlsruher Mietendeckel-Entscheidung ist Wasser auf die Mühlen der Initiativen, die auf große Wohnungskonzerne zugreifen möchten, auf solche, die mehr als dreitausend Wohnungen halten; die Wohnungen dieser Konzerne sollen, gegen Entschädigung, in Gemeinschaftseigentum umgewandelt, also vergesellschaftet werden; das heißt: Sie sollen künftig nicht mehr privatwirtschaftlich, sondern von einer Anstalt des öffentlichen Rechts betrieben werden. „Enteignung. Jetzt erst recht!“, schrieben die Aktivistinnen und Aktivisten auf ihre Transparente beim Demonstrieren gegen die Mietendeckel-Entscheidung.

Es geht Ihnen um Unternehmen wie die Deutsche Wohnen AG, die allein in Berlin 114 200 Wohnungen ihr Eigen nennt; zu ihren Aktionären zählt der US-Vermögensverwalter Blackrock; man wirft den Konzernen vor, dass sie schuld seien an der extremen Entwicklung der Mietpreise.

Reibach auf dem Rücken der Mieter

Die Betreiber des Volksbegehrens in Berlin werfen den großen Wohnungskonzernen vor, auf dem Rücken der Mieter ihren Reibach zu machen – mit Mieterhöhungen und mit Luxussanierungen (anstelle von Instandhaltung der Wohnungen). Die Lust auf Enteignung ist deshalb gestiegen, weil Mietrechtsänderungsgesetze, Mietpreisbremsen, Milieuschutzsatzungen und „städtebauliche Entwicklungsmaßnahmen“ nichts oder fast nichts bewirkt haben – und jetzt ist auch noch die Mietdeckelung für verfassungswidrig erklärt worden; deshalb sind viele Menschen für radikale Maßnahmen nach Artikel 15 Grundgesetz offen.

Der einschlägige Artikel 15 Grundgesetz, der die Vergesellschaftung von Grund und Boden vorsieht, ist noch nie eingesetzt worden. Das macht ihn nicht ungültig. Man muss kein Freund solch harten Zupackens sein, um zu begrüßen, dass mit dem Volksbegehren notwendige Diskussionen angestoßen werden – über neue Großprogramme zum Bau von Sozialwohnungen; über Mietpreisbremsen, die wirklich greifen; über Zweckentfremdungs- und Leerstandsverbote, die nicht nur aufgestellt, sondern auch durchgesetzt werden; über eine Reform des Bodenrechts, die die Spekulation mit Grund und Boden verhindert.

Die Druckmittel des Grundgesetzes

„Eigentum verpflichtet“: Diese Verpflichtung braucht Druckmittel. Der Artikel 15 ist so ein Druckmittel. Auch wer die Enteignung von Wohnbaugesellschaften heftig ablehnt, wer sie für grundfalsch hält – er soll den Artikel 15 als ein Kernelement des Grundgesetzes achten. So hat dies der Altliberale Gerhard Baum formuliert. Er hat recht. Es ist gut, wenn das Grundgesetz nicht nur glatt und gefällig ist. Es ist gut, wenn es auch widerborstig ist. Das Grundgesetz soll anstoßen, anregen; es darf auch aufregen

Der Finanzkapitalismus hat den Satz „Eigentum verpflichtet“ auf seine Weise ergänzt: „…zu nichts, außer zur Gewinnmaximierung“. Diese, von Recht, Gesetz und Gericht nicht gebremste Grundeinstellung hat dann zur großen Finanzkrise geführt. Und die große Finanzkrise hat dazu geführt, dass der deutsche Staat die Hypo Real Estate, eine Bankenholding zur gewerblichen Immobilienfinanzierung, durch Verstaatlichung retten musste – mit gigantischen Mitteln aus dem Finanzmarktstabilisierungsfond. Man kann sich mit Recht fragen, warum solche gigantischen Anstrengungen nicht auch für die Leute unternommen werden, die der Mietmarkt in den Ruin treibt.

Es geht um den gesellschaftlichen Frieden. Für ihn zu sorgen, gehört zu den Aufgaben des Rechts und des Bundesverfassungsgerichts.

Diesen Frieden und eine anregende Frühlingswoche wünscht Ihnen

Ihr

Heribert Prantl
Autor und Kolumnist der Süddeutschen Zeitung


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