Wie sich Christian Lindner vor Robert Habeck setzt – und wie die Grünen ihren Vorsprung vor der FDP verspielt haben. Scheitert nun die Ampel bei der grünen Urabstimmung an der verärgerten Basis?

Von Heribert Prantl

Einen so dummen Titel hat dieser Koalitionsvertrag nicht verdient. Der Titel ist so uninspiriert, so nichtssagend und hohl und spruchbeutelig, wie es hoffentlich die Regierungspolitik nicht sein wird: „Mehr Fortschritt wagen“ – das soll an Willy Brandt erinnern, an sein Regierungsmotto von 1969; aber es erinnert nur an Wahlkampfplakate der FDP. Unter „Mehr Demokratie wagen“ konnte und kann man sich etwas vorstellen. Aber „Mehr Fortschritt wagen“? Das Wortgeklingel war schon vor fünfzig Jahren zu nichts nütze; damals stand das Wort Fortschritt noch für eine vage Verheißung. Damals hat die CDU, ihr Kanzlerkandidat hieß Rainer Barzel, auf die Wahlplakate den Spruch gesetzt: „Wir bauen den Fortschritt auf Stabilität“. Fortschritt wobei? Fortschritt für wen?

Diese Fragen muss man schon deswegen stellen, weil der Klimawandel, den es zu bekämpfen gilt, mit dem zu tun hat, was man lange Zeit unter „Fortschritt“ verstand. Die Industrialisierung stand im Zeichen eines Fortschritts, der für die Natur und die Ökosysteme ein brutaler Rückschritt war. Die neue Klasse des Industriezeitalters, das Proletariat, arbeitete für einen Fortschritt, dessen Früchte nur wenige ernteten. Die soziale Marktwirtschaft, heute spricht man von öko-sozialer Marktwirtschaft, gehört zu den Versuchen, die Folgen dieses Fortschritts zu moderieren und zu korrigieren. Die Zeiten sind vorbei, in denen alles, was sich „Fortschritt“ nannte, als Verheißung galt. Fortschritt ist kein Wert an sich.

Das „Weiter so“ in der Verkehrspolitik, ist das der Fortschritt? Ist es ein Fortschritt, dass es keine Verkehrswende gibt und nach wie vor keine Geschwindigkeitsbeschränkungen auf Autobahnen? Ist es ein Fortschritt, dass weiter Atomwaffen lagern in Deutschland? Ist es ein Fortschritt, wenn jetzt Drohnen mit Waffen bestückt werden? Ist es ein Fortschritt, dass die einzige Anknüpfung an die Brandt’sche Ostpolitik darin besteht, dass Christian Lindner den SPD-Altmeister Egon Bahr zitiert?

Das Wort „Fortschritt“ ist das falsche Band, um die 177 Seiten des Koalitionsvertrages zusammenzubinden. Der Vertrag ist, aufs Ganze gesehen, allerdings besser als sein tumber Titel. Dieser rot-grün-gelbe Koalitionsvertrag von 2021 ist konkreter und gehaltvoller, als es der rot-grüne Koalitionsvertrag von 1998 war. Um diesen Ampel-Vertrag zu würdigen, muss man sich die Alternative vor Augen halten: Die Alternative zur Ampel-Koalition hätte eine umgekehrte große Koalition sein können, also eine Koalition aus SPD und Union unter einem Kanzler Scholz.

Das Aufatmen der Zivilgesellschaft

Die gesellschaftspolitischen Weichenstellungen, die jetzt die Ampel unternehmen will, wären in einem solchen Groko-Vertrag nicht möglich gewesen: Die jetzt geplante Asyl- und Migrationswende, die Neuerungen in der Integrations- und Staatsbürgerschaftspolitik, die Verbesserungen im Adoptionsrecht, die Legalisierung von Cannabis, die Streichung des Paragrafen 219a des Strafgesetzbuches als letzter Akt der Entkriminalisierung der Abtreibung, die Senkung des allgemeinen Wahlalters auf 16 Jahre – das alles ist Ausdruck einer aufgeklärt liberalen Grundhaltung. Viele dieser Punkte waren überfällig.

Der Beifall der Zivilgesellschaft für diesen Vertrag von 2021 ist viel animierter und lauter, als er 1998 bei Rot-Grün, bei der ersten Koalition mit grüner Regierungsbeteiligung, war. Von Beifall konnte man damals, trotz der Aufbruchsstimmung nach Helmut Kohl, eigentlich gar nicht reden. Die Menschenrechts- und Asylgruppen, die Umweltschützer und die vielen kleinen Nichtregierungsorganisationen, von den kritischen Polizistinnen und Polizisten bis hin zu Pazifisten – sie waren damals enttäuscht, entgeistert und entsetzt. Heute hört man, „Fridays for Future“ ausgenommen, eher ein Aufatmen. Und die Pazifisten haben sich schon daran gewöhnt, auch bei den Grünen keine Heimat mehr zu haben. Sie nennen die Einigung auf die Anschaffung bewaffneter Drohnen eine „Katastrophe“.

Eine verheißungsvoll feine Art

Das Allerbeste, was man bisher über die Ampel sagen kann, ist die Dezenz, mit der sie installiert wurde: Da wurde nicht herumtrompetet, da gab es kein Schaulaufen, keine Durchstechereien; es war ein zügiges, offenbar auch vertrauensvolles Verhandeln; das hatte Stil und eine verheißungsvoll feine Art. Das spiegelt sich auch im Koalitionsvertrag: Der rote Faden dort ist nicht der „Fortschritt“, es sind die Vokabeln der Gemeinsamkeit: Immer und immer wieder heißt es da, fast innig: „Wir wollen“ und „Wir werden“. Das ist das eigentliche Motto des Koalitionsvertrages: „Wir wollen. Und wir werden“. Es sind die Vokabeln der vertrauensvollen Kooperation.

Das war und ist ein großer Unterschied zu 1998: Damals verstand die rot-grüne Schröder-Regierung unter Regierungslust eine kraftprotzhafte Politik. Die Verhandler und späteren Koalitionäre schwangen sich auf die großen Themen wie die Halbstarken auf ihre Motorräder. Der Motor heulte auf, die Räder drehten durch – und es begann eine euphorische wilde Jagd, bei der jeder den anderen überholen wollte: Der Schröder den Fischer und der Fischer den Trittin. Die schwelende Konkurrenz zwischen Lafontaine und Schröder kam erschwerend hinzu. Das war und ist diesmal anders. Christian Lindner, der für sich und seine FDP viel erreicht hat in den Koalitionsgesprächen, verstand es gar, auch noch die Worte „Demut“ und „Respekt“ geschickt zu platzieren. Er ist der Gewinner der Koalitionsverhandlungen. Robert Habeck ist als Vizekanzler nominiert. Der gefühlte Vizekanzler ist Christian Lindner.

Die FDP hat sich das Finanzministerium und das Verkehrsministerium gesichert. Dass es künftig einen FDP-Verkehrsminister gibt – viele grüne Parteimitglieder sind empört, sind zornig und fühlen sich und die grünen Anliegen beschämt. Die Grünen haben ihren Vorsprung vor der FDP verspielt: erst durch ihre Nachgiebigkeit bei den Koalitionsverhandlungen und dann durch die holpernde und verkrampfte Art, mit der sie ihre Ministerposten in der Regierung besetzt haben.

Quoten-Missbrauch bei den Grünen

Bei der FDP ging das geschmeidig vor sich; bei den Grünen mit krachender Kraftanstrengung unter Missachtung fundamentaler Grundsätze: Ein Minister muss, das galt dort bisher, aus der Fachlichkeit kommen, er muss im Stoff stehen, er muss die Materie beherrschen, er muss Sachkenntnis und Leidenschaft mitbringen. Bei Cem Özdemir als Landwirtschaftsminister ist das nicht der Fall; er ist in diesem Amt nicht authentisch. Anton Hofreiter wäre für dieses Amt der Richtige gewesen. Özdemir wiederum hätte für das Außenministerium mehr an Qualifikation und Strahlkraft mitgebracht als Annalena Baerbock. Ein Außenminister Özdemir wäre ein großes außen- und innenpolitisches Signal gewesen. Aber Baerbock pochte auf die Quote und das Prestige des Amtes.

Die Quote? Die Parteiführung nutzte die Frauenquote, um mit drei linken Frauen (Steffi Lemke, Anne Spiegel und Claudia Roth) die zwei Realo-Männer Habeck und Özdemir zu kompensieren. Das ist nicht in Ordnung. Das ist Quoten-Missbrauch. So sicher ist es daher noch nicht, dass die Parteibasis bei der Abstimmung über die Ampel all diese Machinationen hinnimmt. Der Zorn darüber, wie man sich von Lindner über den Tisch hat ziehen lassen, raucht.


Newsletter-Teaser

Spread the word. Share this post!