Lebenssatt ist ein anderes Wort für Wohlergehen. Auch alte Menschen müssen in Würde lebenssatt werden. Man darf sie nicht so behandeln, dass sie ihr Leben satthaben.
Von Heribert Prant
Die Beatles haben im Jahr 1967 Jahren in einem berühmt gewordenen Lied darüber sinniert, was sein wird, wenn sie alt werden: „When I get older losing my hair / many years from now“. Und sie haben dann gefragt: „Will you still need me, will you still feed me / when I’m sixty-four“. Wenn die Beatles diesen Song heute, sechzig Jahre später, gesungen hätten, sie hätten wohl nicht von Sixty-Four, sondern von Eighty-Four gesungen.
Mit dieser Überlegung hat der Sozialpsychiater Klaus Dörner sein kluges und humanes Buch über das Altern geschrieben. Es heißt „Leben und sterben, wo ich hingehöre“ und ist 2007 erschienen. Dörner verweist darauf, dass die Menschen immer älter werden. Das durchschnittliche Alter bei der Aufnahme ins Alten- und Pflegeheim in Deutschland liegt heute bei etwa 84 bis 86 Jahren und steigt weiter an. Die größte Altersgruppe sind Personen über 85 Jahre, allein die Gruppe der über 90-Jährigen macht im Heim etwa 26 Prozent aus.
Ist die Konzentration auf das Heim-Modell falsch?
Dörner propagiert ein neues Hilfesystem aus Profis und neu belebter bürgerschaftlicher Selbsthilfe, er fordert, das „Separieren“ der Alten zu beenden – und er plädiert für die Umwandlungen von Heimen in ambulante Wohngruppen. Er erwartet in diesem Zusammenhang von den Kirchengemeinden die Wiederzusammenführung von Gottes- und Menschendienst. Er nennt dieses neue Hilfesystem „dritter Sozialraum“; die Familie ist für ihn der erste, der Staat der zweite Sozialraum.
In den gesellschaftlichen Debatten ist viel von Integration und Inklusion die Rede. Inklusion heißt Anerkennung, Respekt und Wertschätzung. Mit den Alten geschieht das Gegenteil: Sie werden ausgeschlossen aus ihrer bisherigen Welt. Die Konzentration der Politik auf das Heim-Modell zur Unterbringung der alten und sehr alten Menschen ist teuer und altenfeindlich. Es reißt Menschen aus ihrer Umgebung heraus, statt sie dort so lang wie möglich leben zu lassen. Klaus Dörner hat von einer „Konzentration der Unerträglichkeit“ gesprochen. Es ist derzeit leider so: Häusliche Pflege wird nicht belohnt, sondern eher bestraft. Das Geld der Sozialkassen fließt vor allem in die teure stationäre Pflege.
Demente alten Menschen werden deswegen zu oft ausgelagert aus dem Gemeinwesen, weil sie so viel von dem verlernt haben, was man von einem erwachsenen Menschen erwartet: manchmal die Erinnerung, manchmal die Orientierung, manchmal das Sprechen, das Anziehen und sogar das Essen. Manchmal können die Alten aber Dinge, von denen bisher keiner gewusst hat, dass sie die können – nicht einmal sie selbst: Sie können singen, sie können Musik machen, sie können malen. Aber im Lauf der Zeit kann auch das wieder erlöschen. Der Mensch, der seinen Freunden, Bekannten und Verwandten vertraut war, verschwindet. Entgeistert stehen sie vor einer Veränderung, die ihnen als dessen Entgeistigung erscheint. Und mit dem Geist, so meinen viele dann, verschwinde auch die Würde und das Herz. Aber das ist falsch, furchtbar falsch.
Welcher Satz an den Eingangstüren der Altenheime hängen sollte
Die Würde verschwindet nicht. Sie wird einem genommen in einem Gesundheits- und Pflegesystem, wenn es die Pflege auf das Allernotdürftigste beschränkt. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“: Die Altenheime gehören zu den Orten, an denen sich dieser Haupt- und Eingangssatz des Grundgesetzes bewähren muss. Man sollte ihn an die Eingangstüren hängen. Es geht um Menschen, die ein Leben lang gerackert haben. Sie brauchen Hilfe; jemanden, der ihnen zuhört; mit ihnen isst; sie in den Arm nimmt; sie ins Zimmer bringt, wenn sie nachts durch die Flure irren; sie nicht auslacht, wenn sie klagen, dass man ihnen ihr Geld gestohlen habe. Das stimmt ja auch: Die Pflege ist teuer; die Ersparnisse vieler alter Menschen schmelzen deshalb so schnell weg.
Eine Kultur, die die Lebenszeit so wunderbar verlängert hat, hat bisher nur unzulängliche Antworten auf die Fragen gefunden, die damit einhergehen. Die Gesellschaft muss die Kraft und das Konzept haben, sie in Würde alt und lebenssatt werden zu lassen. Lebenssatt ist ein anderes Wort für Wohlergehen. Man darf die Alten nicht so behandeln, dass sie ihr Leben satthaben.
Zu einem oftmals entwürdigenden Umgang mit den Alten kommt ein entwürdigender Umgang mit den Pflegenden. Auch das Helfen hat seine Würde – und diese Würde wird untergraben, wenn man den Menschen, die einmal mit viel Idealismus in den Pflegeberuf gegangen sind, das nimmt, was ihr Ethos ausmacht: sich dem ganzen Menschen zuzuwenden. Stattdessen müssen die Pflegerinnen und Pfleger Module abarbeiten und dieses Abarbeiten dokumentieren. Ich wünsche mir einen ernsthaften, würdigen Umgang mit den alten, dementen, hilfebedürftigen Menschen. Ich wünsche mir gute Hilfe und gute Helfer.
In den Wahlkämpfen spielen die Alten, ihre Bedürfnisse und ihre Fragen kaum eine Rolle jenseits der Rentendebatte. Die Fragen lauten: Wie müssen wir unsere Stadtviertel, unsere Geschäfte und Straßen bauen oder umbauen, damit alte Menschen sich darin bewegen und orientieren können? Wie müssen soziale Medien ausschauen, damit dort nicht nur junge, sondern auch alte Menschen zu Hause sein können? Die Gesellschaft wird ihren Frieden machen müssen mit der Demenz, die eher Schicksal ist als Krankheit, nämlich eine Variante des Lebens im meist sehr hohen Alter.
Der demente Mensch ist Mensch, auch wenn er nicht mehr vernünftig ist. Er ist ein Mensch mit Demenz und mit Leib und Seele, Sinnlichkeit, Kreativität und Emotion. Die Kunst besteht darin, demente Menschen nicht mit Kleinkindern zu vergleichen und wie Kleinkinder zu behandeln, sondern sie weiter als Erwachsene ernst zu nehmen.
