Guten Tag,
ich wollte eigentlich heute nur über ein aktuelles Gerichtsurteil des Landgerichts Erfurt schreiben, das mich umtreibt; aber dabei ist es dann nicht geblieben: ich bin der Flutkatastrophe schreiberisch nicht ausgekommen.
Das Urteil, um das es mir geht und das mich umtreibt, ist ein Urteil des Landgerichts Erfurt. Es ist ein Urteil, das vom Gericht mit den Angeklagten regelrecht ausgehandelt worden ist; so einen Handel nennt man Deal. So ein Deal ist nichts Neues mehr im Strafprozess, dort wird seit vier Jahrzehnten gedealt: Der Angeklagte gesteht, wenigstens teilweise, und erhält dafür die vereinbarte milde Strafe. Wirtschaftsstraftaten werden seit langem so verhandelt, mittlerweile auch viele kleine Alltags- und Verkehrssachen. Das geht dann so: „Wenn das Fahrverbot wegfällt, gibt mein Mandant die Geschwindigkeitsüberschreitung zu“, erklärt der Anwalt. Der Richter akzeptiert das und erspart sich viele Stunden Beweisaufnahme. Wenn so in großen Wirtschaftsstrafprozessen verfahren wird, und dort ist das fast die Regel, erspart sich das Gericht Monate, vielleicht Jahre.
Der Handel mit der Gerechtigkeit
Mir hat so ein Handel mit der Gerechtigkeit nie gefallen, weil ein Strafgericht kein Handelsgericht ist. Aber das Bundesverfassungsgericht hat diese Dealerei im Gerichtssaal mit höchsten Weihen versehen – und der Gesetzgeber hat den Deal ins Gesetz geschrieben. Es darf also gefeilscht, gekungelt und gepokert, es dürfen das (Teil-)Geständnis und der Deal vom Gericht, vom Staatsanwalt, dem Verteidiger und dem Angeklagten ausgetüftelt werden. Nur die Opfer sind da nicht beteiligt.
Ein Deal mit dem Rollkommando
So war es auch bei dem Erfurter Urteil, das mich quält. Das Gericht in Erfurt hat freilich nicht irgendeinen 08/15-Deal ausgehandelt. Es hat ihn mit angeklagten Neonazis ausgehandelt – mit einer Truppe von gewaltbereiten und gewalttätigen Rechtsextremisten, die ein Dorf in Thüringen eingeschüchtert und terrorisiert und die dort, in Ballstädt, das war der Vorwurf, eine Kirmesgesellschaft überfallen haben. Darf der Staat mit Neonazis dealen? Durfte er die Angeklagten als Belohnung für zuvor ausgehandelte Teil-Geständnisse, trotz der gezeigten Brutalität, mit Bewährungsstrafen davonkommen lassen – auch den Hauptangeklagten, trotz seiner einschlägigen Vorstrafen? Bewährungsstrafen für ein, wie das Gericht in der Urteilsbegründung feststellte, „überfallartiges Rollkommando“? Ist so ein brauner Deal ein guter Deal? Das Gericht reklamiert das Urteil als Erfolg für den Rechtsstaat. Einige der Angeklagten hätten sonst, ohne das Teil-Geständnis, wegen Beweisschwierigkeiten freigesprochen werden müssen.
Wäre das, wenn es denn wirklich so ist, nicht die sauberere Lösung? Darf man, im Namen des Volkes, im Namen des Rechtsstaats, im Namen der Demokratie mit den Leuten Geschäfte, Rechtsgeschäfte machen, die diesen Rechtsstaat mit Füßen treten und mit Fäusten schlagen? Darf sich der Staat auf diese Weise gemein machen mit roher brauner Gewalt? Ich meine: Nein. Deswegen quält mich das Erfurter Urteil.
Die Vorsitzende Richterin hat in dem Überfall der rechtsextremen Schläger keine politisch motivierte Tat erkannt. Gehört diese Blindheit auf dem rechten Auge auch zum Deal? Das erinnert mich an einen Satz, den einst in Zeiten der Weimarer Republik Gustav Radbruch, der große Rechtsphilosoph, gesagt hat. Die Einfalt der Strafjustiz hat ihn damals wie folgt auf den Plan gerufen: „Manchmal will es scheinen, als gebiete die Methode der juristischen Auslegung, sich als reiner Tor zu gebärden oder, vulgär gesprochen, sich dumm zu stellen.“
Das Unbehagen
Ich sagte zu Beginn dieses Briefes, dass ich mich eigentlich nur mit den gerichtlichen Deals befassen wollte. Auf die Nachrichten über den braunen Deal in Thüringen folgten aber dann die Nachrichten über einen ganz anderen, einen zukunftsträchtigen und zukunftsmächtigen, einen grünen Deal in Brüssel: Ursula von der Leyen, die Präsidentin der EU-Kommission, verkündete einen „Green Deal“, mit dem die Natur geschützt und die Klimakatastrophe verhindert werden soll. Der „Deal“ sieht unter anderem vor, von 2035 an keine Benzin- und Dieselautos mehr zuzulassen. Von der Leyen hatte sich mit der Idee und dem Plan eines solchen grünen Deals 2019 schon erfolgreich um das Amt der Kommissionspräsidentin beworben. Jetzt legte sie ihn vor. Es ist dies ein großes und wichtiges Konzept.
Und vielleicht hatte es nur mit dem Unbehagen über den braunen Deal von Erfurt zu tun, dass ich mich an dem Namen „Deal“ für ein Zukunftskonzept gestoßen habe. Es geht hier nicht um ein gegenseitiges Nachgeben, es geht nicht um einen Handel, nicht um ein Aushandeln, bei dem jede Seite mehr oder weniger nachgibt. Die Natur gibt nicht nach. Das wurde, kurz nach der Bekanntgabe des Green Deals in Brüssel, auf erschreckende und furchtbare Weise klar. Die Flutkatastrophe in Rheinland-Pfalz und in Nordrhein-Westfalen machte und macht klar, dass es nicht um einen „Deal“ gehen kann und gehen darf, nicht um Feilschen und Pokern mit der Natur.
Der erschütterte Glaube an die Unerschütterlichkeit der technologischen und digitalen Zivilisation
Die Katastrophe von Ahrweiler und Erftstadt ist eine Klimakatastrophe: Schlamm, Schutt, Zerstörung. Weggerissene Häuser. Unterspülte Straßen. Tote, so viele Tote. Leichen im Schlamm. Leichen in den Häusern. Es starben Menschen, die sich nicht mehr in Sicherheit bringen konnten. Es starben Menschen, die helfen wollten. Das Wasser kam so schnell, es stieg binnen Minuten. Es stieg bis zur Decke. Es riss alles mit – die Autos, die Möbel, das Leben, das Gefühl der Sicherheit. Es zerstörte die Infrastruktur und den Glauben daran, dass die technologische und die digitale Zivilisation unerschütterlich ist. Sie ist längst erschüttert und sie braucht eine neue Ethik und ein neues Recht.
Flut, Wahlkampf und Politik
Das Ausmaß der Katastrophe gemahnt an die Flutkatastrophe von Hamburg im Jahr 1962; damals waren 315 Tote zu beklagen, es gab 20 000 Obdachlose; 6000 Gebäude wurden zerstört. Mit den zupackenden Rettungsaktionen des damaligen Hamburger SPD-Innensenators begann die große politische Karriere des Helmut Schmidt, die ihn dann bis ins Bundeskanzleramt führte. Seitdem gilt das beherzte Handeln in Naturkatastrophen als Befähigungsnachweise für höchste politische Ämter. Im Wahlkampf des Jahres 2002 hat der damalige SPD-Kanzler Gerhard Schröder mit entschlossenem Agieren in der Oder-Flut seinem Konkurrenten und Herausforderer Edmund Stoiber dessen schon sicher geglaubten Sieg genommen.
Die Katastrophe – wahlentscheidend
Diesmal kann es zunächst so sein, dass in den Wasserfluten die persönlichen, bisweilen kleinlichen Vorwürfe gegen Annalena Baerbock, die Kanzlerkandidatin der Grünen, untergehen. Jedenfalls wird die Flutkatastrophe das Bewusstsein für die Klimakatastrophe schärfen. Die Flutkatastrophe wird nicht nur Spendenbereitschaft wecken. Sie wird auch die Bereitschaft wecken, Opfer zu bringen für den Klimaschutz. Sie wird die Bereitschaft verstärken, den Grünen in der Wahlkabine Referenz zu erweisen als der Partei, mit denen sich dieser Klimaschutz verbindet. Die Flutkatastrophe kann also, sie wird also wahlentscheidend sein.
Eine Wahlentscheidung für die Grünen ist vielleicht auch ein Deal – ein Deal der Wähler mit dem schlechten Gewissen, das man auf diese Weise in der Wahlkabine zu entlasten versucht.
Vor fünfhundert Jahren war es die katholische Kirche, die den Deal praktizierte. Sie brauchte Geld und verkaufte dafür Ablässe: Wenn das Geld im Kasten klang, die Seele in den Himmel sprang – angeblich. Die Gläubigen konnten sich zu festen Tarifen ganz oder teilweise Sündenvergebung erkaufen. Die Sache funktionierte ökonomisch hervorragend; aber es zerbrach daran der Glaube an die Kirche. Fünfhundert Jahre später ist dieses System ins Strafrecht übertragen worden. Das dient einer effektiven Rechtspflege – angeblich. An diesem neuen Deal, dem Deal im Strafprozess, kann aber der Glaube an das Recht zerbrechen.
An einem Deal für das Klima darf nicht die Natur leiden. Er muss ein Schutzvertrag für die Natur sein. Die Lehre von Ahrweiler und Erftstadt lautet: Die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen ist keine Frage von gut und böse, von fair oder unfair; es ist dies eine Frage der Selbsterhaltung.
Ich wünsche uns allen Sommerwochen der erholenden Erkenntnis.
Herzlich
Ihr
Heribert Prantl
Autor und Kolumnist der Süddeutschen Zeitung