Guten Tag,
ein 72. Geburtstag, wie ihn Horst Seehofer am heutigen Sonntag feiert, ist eigentlich nichts Besonderes. Ein 72. Geburtstag ist eigentlich kein Anlass für Rückblicke, Trara und Tralala. Eigentlich. Bei Horst Seehofer ist das anders. Bei ihm ist dieser Geburtstag ein ganz besonderer Geburtstag; es ist sein letzter als Politiker. Dieser Geburtstag markiert das Ende einer langen Dienstfahrt. Feierabend.
Seehofer stand und steht für einen Politikertypus, den es kaum noch gibt: Er ist kein Studierter, er ist kein Akademiker. Er ist einer, der sich aus kleinsten Verhältnissen strebsam hochgearbeitet hat. Er ist ein Politiker von der Art, die einst die SPD großgemacht haben, wie man sie aber auch in der SPD kaum noch findet. Die SPD ist eine ehemalige Arbeiterpartei ohne Arbeiter; es ist lange her, dass sich dort Politiker stolz „Kanalarbeiter“ genannt haben. Die SPD war in ihren großen Zeiten eine Partei, in der kleine Leute, Handwerksgesellen und Arbeiter, etwas Großes aus sich gemacht und Großes für die Gesellschaft geleistet haben. Der Drechsler August Bebel, ein Gründungsvater der Sozialdemokratie, war ihr Urahn und Vorbild.
Wenn Seehofer vor fünfzig Jahren nicht zur CSU, sondern zur SPD gegangen wäre?
Horst Seehofer ist ein August Bebel der CSU. Von seinem Herkommen, der Vater war Lastwagenfahrer und Bauarbeiter, hätte es nahegelegen, dass Seehofer in die SPD eingetreten wäre. Und man kann sich überlegen, was gewesen wäre wenn: Was wäre dann aus Horst Seehofer, was wäre dann aus der bayerischen SPD geworden? Seehofers Umgebung in Ingolstadt war anders orientiert – katholisch, konservativ, CSU-nah. Vor fünfzig Jahren ist Seehofer in die CSU eingetreten; er feiert also jetzt goldene Hochzeit mit seiner Partei. In der CSU wurde Seehofer sehr bald ein sehr, sehr beliebter Politiker, mit Spitzenergebnissen bei parteiinternen Wahlen.
In diesen fünfzig Jahren hat er alles erreicht, was man als CSU-Politiker erreichen kann. Fast alles. Er war und ist Bundesminister, er war CSU-Chef, er war bayerischer Ministerpräsident. Nur Kanzler oder wenigstens Kanzlerkandidat ist er nicht gewesen; und auch nicht Bundespräsident. Aber einen Kanzler oder einen Bundespräsidenten von der CSU hat es noch nie gegeben – es sei denn, man betrachtet den Christdemokraten Roman Herzog, Staatsoberhaupt von 1994 bis 1999, auch als CSUler, weil er aus Landshut kam und man das auch hörte.
Seehofer hätte sein politisches Leben lieber als bayerischer Ministerpräsident beendet statt als Bundesinnenminister. Er hat das Königliche dieses Ministerpräsidenten-Amtes zehn Jahre lang genossen und zelebriert. Er war einer, der huldvoll gewährte – ohne sich zuvor mit irgendjemandem abzusprechen: „Die Uniklinik kommt!!!“ schrieb er 2009 ins Goldene Buch der Stadt Augsburg. Und so geschah es. Die medizinische Fakultät an der Universität Augsburg wurde in seiner Amtszeit gegründet.
Die CSU der kleinen Leute
Seehofer war der erste und vielleicht der letzte bayerische Ministerpräsident mit proletarischer Herkunft. Er war der erste Regierungschef in Bayern, der nicht an einer Universität studiert hat. Er war einer, der sich mit Fleiß und Begabung durchgesetzt hat gegen die, die eine schönere Kindheit hatten und deren Eltern die Schulausflüge bezahlen konnten, an denen der Schüler Horst, weil zu Hause das Geld dafür fehlte, nicht teilnehmen konnte. Seehofer steht, wie sein ewiger Rivale Erwin Huber, für eine CSU der kleinen Leute, für eine Partei, in der man sich aus kleinen und kleinsten Verhältnissen hocharbeiten konnte – also für die Volkspartei CSU. Seehofer begann sein Berufsleben als Laufbursche im Landratsamt, er machte die Verwaltungsprüfungen für den gehobenen Dienst. Er hatte Durchblick, er schrieb die Gesprächszettel und Reden für Bürgermeister und Landräte; und als er feststellte, dass die dann seine Sätze Wort für Wort vortrugen, beschloss er, dass er das auch selber machen könnte. Mit 31 Jahren wurde er in den Bundestag gewählt, Theo Waigel wurde dort zu seinem Förderer. Aus Seehofer wurde, geprägt von seiner Herkunft, ein hochengagierter Sozialpolitiker. Als Sozial- und Gesundheitspolitiker war er kämpferisch, da ging er Auseinandersetzungen nicht, wie sonst gerne, aus dem Weg.
Drehhofer, Stehhofer
Der Sozial- und Gesundheitspolitiker Seehofer wusste, was er wollte, in diesem Politikfeld hatte er eine klare Linie. Da kämpfte er für den Sozialstaat, also für einen Staat, in dem der Mensch reale, nicht nur formale Chancen hat. Da war er kein Drehhofer, sondern ein Stehhofer. Da hielt er lieber an seinen Überzeugungen fest als an seinen Ämtern und Posten: Vor 17 Jahren, als die Merkel-CDU die sozial ungerechte Kopfpauschale als Ersatz für die gesetzliche Krankenversicherung durchsetzen wollte, trat er aus Fraktionsvorstand der CDU/CSU aus; er wurde Landesvorsitzender des Sozialverbandes VdK. Die neoliberalen Ideen der FDP, von denen Merkel sich hatte anstecken lassen, waren und sind ihm ein Gräuel: Er stelle sich immer die Frage, hat er einmal in einem Interview erklärt, „wie sich bestimmte politische Entscheidungen für die kleinen Leute auswirken“.
Zwiegespalten
Als Seehofer zehnter bayerischer Ministerpräsident der Nachkriegszeit wurde und es dann zehn Jahre lang blieb, habe ich ihn ins große weiß-blaue Welttheater gestellt und geschrieben, dass er einiges von seinen Vorgängern mitbekommen habe. „Wenn man sich einen Seehofer backen will, geht das so: Man nehme drei Teile der Leutseligkeit von Alfons Goppel, zwei Teile des Machtbewusstseins von Franz Josef Strauß, dazu eine Prise des Autismus von Edmund Stoiber. Einen richtigen Seehofer hat man dann immer noch nicht. Die Ingredienzien aus dem Fundus der Charaktere der neun Vorgänger des neuen Ministerpräsidenten reichen nicht ganz aus. Man muss sich im Ensemble des bayerischen Welttheaters etwas genauer umsehen.“ Man braucht zum Beispiel noch ein Stück der Schlitzohrigkeit eines Hermann Höcherl, der einst, wie heute Seehofer, CSU-Bundesinnenminister war und das Grundgesetz nicht ständig unter dem Arm tragen wollte. Und dann muss man, um all das richtig zu verarbeiten, wissen, wo dieser Horst Seehofer herkommt: aus Ingolstadt.
Dieses Ingolstadt liegt am nördlichen Rand Oberbayerns – und hat irgendwie etwas Zwiegespaltenes. Dort war in alten Zeiten das Zentrum der katholischen Gegenreformation, dort lehrte Professor Johannes Eck, einer der heftigsten Widersacher Martin Luthers. Einerseits. Andererseits war Ingolstadt im 18. Jahrhundert der Sitz der freidenkerischen Illuminaten, dort hat Graf Maximilian von Montgelas seine Ideen von der Modernisierung Bayerns ausgebrütet. In Ingolstadt waren die Reaktion und die Aufklärung zu Hause. Und Ingolstadt ist die Stadt, in der Herzog Wilhelm IV. 1516 das Reinheitsgebot für die Herstellung des Bieres erlassen hat. „Ingolstadt, 14 Kilometer vom geographischen Mittelpunkt Bayerns entfernt“, so habe ich 2010 geschrieben, sei „also kein schlechter Geburtsort für einen bayerischen Ministerpräsidenten“.
Am rechten Fleck
Das hat Seehofer auch so gesehen. Als Ministerpräsident und CSU-Chef hat er persönliche Bescheidenheit mit auftrumpfender Politik kombiniert. 2013 ist es ihm so gelungen, seine Partei wieder zu stabilisieren und zur absoluten Mehrheit zu führen. Die Attitüde des besorgten, gelassenen und leutseligen Schäfers half ihm dabei. Er konnte dieses Bild und die Mehrheit nicht erhalten. Sein sympathisch glucksendes Reden wurde giftig, sein schnappendes Lachen gefährlich. Die Selbstgefälligkeit in ihm brannte durch. Die AfD raubte ihm die Gelassenheit, er lieferte sich in der Asylpolitik drei Jahre lang einen wilden Kampf mit der Kanzlerin, er brüskierte sie, er drohte mit einer Klage in Karlsruhe, er titulierte sie nach dem Asylsommer 2015 als Rechts- und Verfassungsbrecherin, er redete so wie die AfD, angeblich, um diese überflüssig zu machen, er propagierte eine Asyl-Obergrenze, krönte das Ganze mit der Drohung, die CSU von der CDU zu scheiden. Seehofer glaubte, die Härte in der Flüchtlingspolitik werde die CSU so hart machen, dass ihr die AfD nichts oder nur wenig anhaben könne. Er nahm daher in Kauf, dass die CSU in der Flüchtlings- und Ausländerpolitik erstens der AfD viel näher rückte als der CDU und dass die CSU sich zweitens auch weit von der katholischen und der evangelischen Kirche entfernte. Das Reden über Seehofer als einem Politiker, der das Herz am rechten Fleck hat, bekam eine neue, böse Bedeutung.
Das Erfahrungskrokodil
Die Quittung kam bei der Bundestagswahl 2017 und, noch schlimmer, bei der Landtagswahl von 2018. Nach diesem Absturz raubten ihm die Landtagsfraktion und der Konkurrent Markus Söder das Amt des Ministerpräsidenten, und er selbst raubte sich die Souveränität, als er im neuen Kabinett Merkel IV ein Amt annahm, das nicht zu ihm passte: das des Bundesinnenministers. In der Geschichte dieses Hauses ist er ein Unikum: Außer ihm gab es in der langen Reihe von Ministern nur einen (Paul Lücke, 1965 bis 1968), der nicht Jurist war. Seehofer fehlte und fehlt das Sensorium, das man in diesem Amt braucht – deswegen war er so stur, deswegen kompensierte er seine Unsicherheit immer wieder mit Rechtsaußengerede. Er sagt von sich, er sei ein „Erfahrungsjurist“. Aber das ist so, wie wenn eine Giraffe, die sich in die Sümpfe verirrt, von sich sagt, sie sei ein Erfahrungskrokodil.
Seine letzten politischen Jahre als Bundesinnenminister waren nicht die Krönung, sondern der Austrag einer großen politischen Laufbahn. Seehofer wurde als Ministerpräsident und als CSU-Chef abgelöst von einem, der ein noch gerissenerer Populist ist als er und dessen Machtbewusstsein noch dominanter ist. Horst Seehofer hat womöglich mit der Dankbarkeit Söders gerechnet, weil er ihn befördert hat, weil er ihn die Treppe hochbefördert hat bis zum Finanz-, Heimat- und Landesentwicklungsminister. Aber Loyalität ist Söder noch weniger gegeben als Seehofer.
Schafkopf-Solo
Seehofer ist ein jovialer Einzelgänger. Wenn er künftig als Pensionär viel Schafkopf klopft, wird er dabei das machen können, was er besonders gut kann – nämlich viele Solos spielen. Man wird Seehofers letzte, uninspirierte Jahre vielleicht bald vergessen. Man wird sich eher erinnern an den leutseligen Spott, der ihm zu Gebote stand – und den er im Bierzelt gern so einsetzte: „Vorne sitzt die Prominenz und hinten die Intelligenz.“ Beifall, Beifall.
Ich wünsche Ihnen, ich wünsche uns einen schönen Sommer – und Politikerinnen und Politiker mit Herz und Verstand
Ihr
Heribert Prantl,
Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung