Über der Pressefreiheit hängt ein Damoklesschwert: Warum Julian Assange und Alexej Nawalny zusammen den Friedensnobelpreis erhalten sollten.
Kommentar von Heribert Prantl
Was hat er getan? Er hat die Wahrheit veröffentlicht. Er hat US-Kriegsverbrechen offenbart. Er hat als Gründer von Wikileaks in Zusammenarbeit mit klassischen Medien geleakte Militärprotokolle veröffentlicht, die unter anderem Kriegsverbrechen der USA während der Kriege in Afghanistan und im Irak belegen. Diese Akten zeigen, wie Folter und Hinrichtungen dort zur Praxis wurden. Das von ihm via Wikileaks publizierte Material enthält auch das berüchtigte Video, auf dem zu sehen ist, wie Piloten eines US-Kampfhubschraubers auf einer Straße in Bagdad unschuldige Zivilisten niedermähen, darunter zwei Journalisten der Nachrichtenagentur Reuters.
Wenn Aufdeckung als Spionage verfolgt wird
Man wird mit diesem Video Zeuge der furchtbaren Details: „He is wounded“, hört man einen amerikanischen Soldaten sagen. „I’m firing.“ Und dann wird gelacht. Ein Minibus kommt angefahren, der die Verwundeten retten will. Der Fahrer hat zwei Kinder dabei. Man hört die Soldaten sagen: „Selber schuld, wenn er Kinder aufs Schlachtfeld bringt.“ Und dann wird gefeuert.
Verfolgt wurden und werden aber nicht die Kriegsverbrecher, nicht die feixenden Todesschützen in Uniform. Verfolgt wurden und werden die, die deren Taten publizieren. Die US-Behörden bezeichnen das als „Verbreitung geheimer Informationen“, als „Verschwörung“ und „Spionage“. Aus Aufdeckung wird also Spionage, aus vorbildlichem Journalismus wird Verschwörung. Deswegen wird Julian Assange mit wütender Nachhaltigkeit verfolgt, deswegen wurde und wird Wikileaks als Terrororganisation bezeichnet. Der angebliche Terror besteht in der Aufdeckung von Terror.
Wer stellt sich hinter Assange?
Demnächst wird Assange 51 Jahre alt, seit mehr als zehn Jahren versucht er verzweifelt, sich dem Zugriff der Weltmacht zu entziehen. Die Chancen sinken rapide, die Hoffnungslosigkeit wächst. Soeben hat die britische Regierung der Auslieferung von Assange an die USA zugestimmt. Die britische Innenministerin Priti Patel hat diese Auslieferungsanweisung unterschrieben. In den USA erwartet Assange eine Haftstrafe bis zu 175 Jahren, also Haft bis zum Tode.
Hätte Julian Assange Kriegsverbrechen der russischen Streitkräfte in der Ukraine veröffentlicht, es wäre alles ganz anders. Er würde in den USA und in Europa als Held der Pressefreiheit gefeiert; wäre er dann von Russland inhaftiert worden, würde man ihn als Märtyrer der Menschenrechte preisen. Aber so ist es nicht.
Für Assange, den Pionier der digitalen Aufklärung, ergreift keine Ursula von der Leyen Partei, kein EU-Außenminister fordert seine Freilassung, Annalena Baerbock hat das nur gefordert, als sie noch nicht Außenministerin war. Diejenigen, die sonst so viel von Menschenrechten reden, sind ziemlich still. Es sind Gruppen und private Initiativen, es sind Journalisten- und Publizistenorganisationen, die sich hinter Assange stellen. Eine kleine Gruppe von 37 Bundestagsabgeordneten der FDP, SPD, Grünen und der Linken (37 Abgeordnete von insgesamt 736) hat einen SOS-Brief an Mitglieder des Britischen Parlaments geschrieben.
Anfang Juni ist Assange im Deutschlandradio-Funkhaus in Köln mit dem Günter-Wallraff-Preis der Initiative Nachrichtenaufklärung ausgezeichnet worden. Den Preis nahm seine Ehefrau entgegen. Birgit Wentzien, die Chefredakteurin des Deutschlandfunks, betonte in ihrer Laudatio, dass die veröffentlichten Dokumente Assange von seinen Quellen zugespielt wurden und er sie nicht etwa gestohlen habe. Sollte Julian Assange verurteilt werden, wäre das, so sagte sie, „ein Zeichen der Abschreckung für Reporterinnen und Reporter auf der ganzen Welt“.
Ein Exempel der Abschreckung
Nicht erst ein künftiges Urteil ist ein Zeichen der Abschreckung. Die gesamte bisherige unnachgiebige, zehn Jahre andauernde Verfolgung des Mannes ist Abschreckung im Fortsetzungszusammenhang. Es ist nicht nur der Mensch Assange in Gefahr, es ist der Schutz von Informanten und Whistleblowern in Gefahr, es ist die Pressefreiheit in Gefahr. An Assange wird ein Exempel der Abschreckung statuiert. Über einem aufklärenden, investigativen Journalismus schwebt künftig ein Damoklesschwert: „Denkt an Assange“ steht drohend auf der Klinge. Es geht nicht darum, ob man diesen Pionier der Aufklärung besonders sympathisch findet oder nicht. Er geht um die Pressefreiheit in toto. Jeder, dem die Pressefreiheit lieb und teuer ist, muss sich für diesen Mann einsetzen.
Für wen Pressefreiheit gilt
Es gibt Leute, die abwiegeln und beschwichtigen. Sie sagen, die Pressefreiheit sei schon deswegen nicht gefährdet, weil Julian Assange alles Mögliche sei, aber kein Journalist. Er sei gewiss ein Politaktivist, ein genialer Computerspezialist, ehemaliger Computerhacker, Programmierer, Gründer und Sprecher von Wikileaks – aber eben nicht wirklich ein Journalist. Er sei nicht einschlägig ausgebildet, er habe keine Liste von journalistischen Veröffentlichungen aufzuweisen, er habe auch die geleakten Dokumente nicht wirklich ausgewertet, analysiert und schon gar nicht kommentiert. Er habe sie halt veröffentlicht. Aber das ist die Basis und das Kennzeichen für all die Produkte, für die die Pressefreiheit gilt.
Journalismus ist keine verspätete Veranstaltung des mittelalterlichen Zunftwesens. Pressefreiheit gilt nicht nur für den, der auf einer Journalistenschule war, und nicht nur für den, der einen Presseausweis in der Tasche hat. Journalist in den Tagen des Internets ist auch der, der ein Forum führen kann. Assange hat auf diese Weise für Aufklärung gesorgt. Er hat sich um die Pressefreiheit verdient gemacht.
Der Friedensnobelpreis als Schutz vor dem Damoklesschwert?
Der Enthüllungsjournalist Günter Wallraff hat vorgeschlagen, Julian Assange den Friedensnobelpreis zu verleihen – er sollte ihn zusammen mit Alexej Nawalny erhalten, dem russischen Dissidenten, Rechtsanwalt, Dokumentarfilmer, Antikorruptionsaktivisten und Blogger, auf den ein Giftanschlag verübt wurde und der nach einem Krankheitsaufenthalt in Deutschland und seiner Rückkehr nach Russland zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt wurde.
Als Nawalny verhaftet wurde, ging hierzulande ein Aufschrei auch durch die Politik. Wallraff sagt dazu: „Für mich sind Menschenrechte unteilbar.“ Er hält Assange und Nawalny „für zentrale Pole in ihrem jeweiligen System, an denen sich zeigt, wie diktatorische Regime, aber auch Demokratien wie die USA zurückschlagen, wenn unangenehme Wahrheiten offengelegt werden.“ Der Friedensnobelpreis wäre ein wirkmächtiges politisches Signal. Er wäre eine Aktion mit Blick auf das Damoklesschwert.