Der Austausch des Auftragsmörders Wadim Krassikow ist richtig, aber in der Begründung verrucht unehrlich. Es handelt sich um eine eigentlich illegale Gefangenenbefreiung zwecks Nothilfe für Putin-Opfer.

Von Heribert Prantl

Recht war das nicht, Recht ist das nicht. Und Recht wird das nicht dadurch, dass die deutsche Politik eine Vorschrift der Strafprozessordnung nutzt, um damit der verruchten Aktion einen juristisch deckenden Anstrich zu geben: Die Freilassung des verurteilten Mörders Wadim Krassikow war nicht Recht, sondern die Simulation von Recht. Man tat so, als gebe es einen Paragrafen, der diese Gefangenenbefreiung legitimiert. Es gibt ihn nicht. Dieser Paragraf 456a der Strafprozessordnung ist für ganz andere Konstellationen gedacht und gemacht: Er ist gemacht zur Entlastung des deutschen Strafvollzugs bei Straftätern, die aus Deutschland ausgewiesen wurden. Der Paragraf ist nicht dafür gemacht, einen verurteilten Auftragsmörder zu seinem Auftraggeber zurückzugeleiten, auf dass der ihn umarmen, belobigen und auszeichnen kann. Der deutsche Staat hat ein „Absehen von der Vollstreckung“ angeordnet im Wissen, dass der verurteilte Mörder dann in Russland für seinen Mord gefeiert werden wird.

Was erlaubt die Not?

Der Bundeskanzler und der Bundesjustizminister haben versucht, ihre Aktion, den Gefangenenaustausch, rechtlich zu inszenieren und zu begründen. Diese Aktion war und ist aber nur politisch, nicht rechtlich begründbar. Der Bundeskanzler, der Bundesjustizminister und die sonst beteiligten Behörden haben jenseits des Rechts agiert – aber sich zu diesem Handeln jenseits des Rechts nicht bekannt. Damit haben sie nicht nur dem Recht geschadet, sondern der Lauterkeit der gesamten Aktion. Die Aktion war von dem sehr verständlichen Willen zur Nothilfe getragen; sie war getragen von dem ehrlichen Willen, 16 von Putin willkürlich eingekerkerte Menschen aus lebensgefährlicher Haft zu befreien – Menschen wie den US-Journalisten Evan Gershkovich. Der Preis, den Kanzler Scholz für diesen Schutz von Putins Opfern bezahlt hat, war die Befreiung des Mörders Krassikow, der im Auftrag Putins am helllichten Tag im Berliner Tiergarten einen von dessen Gegnern umgebracht hat.

Das Berliner Schwurgericht hatte in seinem Strafurteil gegen Krassikow die besondere Schwere der Schuld des Mörders festgestellt. Damit war nach Ablauf einer Mindestverbüßungszeit von 15 Jahren auch die sonst zulässige Aussetzung des Rests der lebenslangen Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgeschlossen. Scholz hat diese vom Strafgericht festgestellte besondere Schwere der Schuld in eine politisch festgestellte besondere Delikatesse der Schuld verwandelt. Er hat sich erpressen lassen, in der redlichen Absicht, von 16 Putin-Opfern Leben, Gesundheit und Freiheit zu retten und zu schützen.

„Putin bleibt ein unberechenbarer Erpresser“ – so stand es in Kommentaren über den Gefangenenaustausch zu lesen. Das ist grundfalsch. Das blanke Gegenteil ist richtig: Als Erpresser ist Putin furchtbar berechenbar. Es ist zu befürchten, dass er die erfolgreich erprobte Methode fortsetzt. Wenn das so ist und wenn der Kanzler sich dann wieder dafür entscheidet, der Erpressung nachzugeben – dann sollte er sich offen dazu und zu dem von ihm zugrundeliegenden Motto bekennen: Was gesetzlich nicht erlaubt ist, das erlaubt die Not. Darüber kann man dann ehrlich streiten. Der Verweis auf den Paragrafen über das „Absehen von der Vollstreckung bei Ausweisung“ ist zutiefst unehrlich.

War das eine Gefangenenbefreiung?

Das Bayerische Oberste Landesgericht hat vor einem Jahr (mit Beschluss vom 21. August 2023) die Regeln, die bei diesem „Absehen von der Vollstreckung“ gelten, penibel aufgeschrieben: Es sind „die Umstände der Tat, die Schwere der Schuld, die Dauer des bisher verbüßten Teils der Strafe, das öffentliche Interesse an nachhaltiger Strafvollstreckung einerseits und andererseits die familiäre und soziale Lage des Verurteilten und das Interesse daran, sich beizeiten von der Last der Vollstreckung von Strafen gegen Ausländer zu befreien, gegeneinander abzuwägen und in die Gesamtbetrachtung einzustellen“. Wer diese Anwendungshinweise liest, der weiß, dass diese Vorschrift bei einem Straftäter wie dem Auftragsmörder Wadim Krassikow nie und nimmer anwendbar ist.

Bei dem sogenannten Gefangenenaustausch handelte es sich um eine Gefangenenbefreiung. Dazu heißt es Paragraf 120 Absatz 1 des deutschen Strafgesetzbuches: „Wer einen Gefangenen befreit … , wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“ In Absatz 2 heißt es: „Ist der Täter als Amtsträger oder als für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichteter gehalten, das Entweichen des Gefangenen zu verhindern, so ist die Strafe Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe.“ Das zeigt: Politisches Gutdünken allein begründet noch nicht die Güte einer Haftbefreiungsaktion.

Bundesjustizminister Marco Buschmann hat den widerstrebenden Generalbundesanwalt Jens Rommel angewiesen, die Befreiung des Strafgefangenen Krassikow auf der Basis des unzulänglichen Paragrafen 456a Strafprozessordnung abzuwickeln – um so der politischen Aktion Krassikow einen legalen Anstrich zu geben.

Nach der geltenden Rechtslage war Buschmann zu so einer Weisung berechtigt. Die deutschen Staatsanwälte liegen am Zügel der Politik, sie sind politisch weisungsgebunden und der Generalbundesanwalt ist ein politischer Beamter. Die Staatsanwaltschaft sagt von sich selber gern, sie sei die objektivste Behörde der Welt. Aber die Staatsanwälte sind, anders als die Richter, nicht unabhängig. Die Staatsanwälte sind Zwitter: Sie selbst halten sich, weil sie bei und in den Gerichten arbeiten, für einen Teil der Judikative; das Gesetz schlägt sie aber der Exekutive zu. Das heißt: Mit den unabhängigen Richtern haben sie nur ihr Gewand gemein; sie tragen die gleiche Robe – darunter steckt aber ein normaler Beamter: abhängig und weisungsgebunden.

Eine bittere Weisung

Der Europäische Gerichtshof hat schon vor fünf Jahren die deutsche Rechtslage hart, richtig und zukunftsweisend kritisiert: Die Staatsanwaltschaft in Deutschland sei nicht ausreichend unabhängig von der Politik, so wie es vom europäischen Recht vorgeschrieben wird. In der Tat: Die deutsche Staatsanwaltschaft verdankt ihr Leben „dem Bedürfnis der Regierung, sich jederzeit Einfluss auf die Strafrechtspflege zu sichern“. So schrieb es die Juristenzeitung zur Weimarer Zeit; und so ist es, leider, bis heute. „Jederzeit“ stimmt nicht mehr. Gemessen an der Gesamtzahl der Ermittlungsverfahren kommt die unmittelbare Einflussnahme heute selten vor; aber gerade auf diese Fälle kommt es an. Sie ziehen sich durch die Geschichte der Republik. Die Gefangenenbefreiung des Mörders Krassikow ist ein neuer Höhepunkt. Ohne die Weisungsbefugnis des Justizministers hätte das nicht auf diese Weise stattfinden können.

Die politische Entscheidung, den Mörder Krassikow aus der deutschen Strafhaft zu entlassen und ihn nach Russland auszufliegen – sie gehört in den Formenkreis von politischen Ausnahmeentscheidungen, von Gnadenentscheidungen im allerweitesten Sinn. Gnade ist vordemokratisch, man sieht ihr immer noch an, woher sie kommt – aus dem Obrigkeitsstaat; sie ist eine Medaille, die dort geprägt worden ist. Auf der einen Seite steht die Huld des Souveräns, auf der anderen Beliebigkeit bis hin zur Willkür. Gnade kennt keinen Zwang, auch nicht den Zwang zur Gerechtigkeit, sie kommt von außerhalb des Rechts – so wie die bittere Entscheidung, der Erpressung Putins nachzugeben, um damit, über die Bande, Gutes zu bewirken.

Diese Entscheidung erinnert an eine andere, die vor fast 47 Jahren getroffen wurde, als der Sohn des von den Terroristen der Rote Armee Fraktion (RAF) entführten Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer die Bundesregierung bestürmte, den Forderungen der Entführer nachzugeben und damit seinen Vater zu retten. Vergeblich stellte der Sohn beim Bundesverfassungsgericht den Antrag, die Regierung des Kanzlers Helmut Schmidt zur Rettung des Vaters zu verpflichten. Das höchste Gericht lehnte das ab. Sein Urteil besagt, dass das Grundgesetz eine Schutzpflicht nicht nur gegenüber dem Einzelnen (hier dem Entführungsopfer Schleyer), sondern auch gegenüber der Gesamtheit der Bürger begründe. Die Festlegung auf ein bestimmtes Mittel – also den von Schleyer begehrten Austausch mit den RAF-Gefangenen – könne, so die Verfassungsrichter damals im Herbst 1977, schon deshalb nicht erfolgen, „weil dann die Reaktion des Staates für Terroristen von vornherein kalkulierbar würde“. Das gilt für Wladimir Putin auch. Olaf Scholz sollte das Schleyer/RAF-Urteil von damals mit Bedacht lesen.

 


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