Antje Vollmer ist entsetzt über den kriegerischen Weg der Grünen. Wie kann Frieden werden? Was bedeutet die Fastenzeit für den Ukraine-Krieg?

Von Heribert Prantl

Ich habe einen bewegenden Text gelesen. Nein, ich meine nicht das „Manifest für den Frieden“ von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht, das bald siebenhunderttausend Menschen unterschrieben haben und das soeben Zigtausende bewogen hat, in Berlin auf einer Demonstration für den Frieden teilzunehmen. Der Streit über dieses Manifest, das für Friedensverhandlungen wirbt, ist giftig. Die Kritiker nennen die Initiatoren, die Erstunterzeichner der Friedensmanifests und die Demonstranten „Friedensschwurbler“.

Zu ihnen, zu den Erstunterzeichnern, gehört auch die grüne Pazifistin Antje Vollmer, Bundestagsvizepräsidentin von 1994 bis 2005. Eine Friedensschwurblerin? Wer so etwas sagt, sollte ihren Essay lesen, den sie in der vergangenen Woche in der Berliner Zeitung publiziert hat. Er wird dann wahrscheinlich nachdenklich werden über die Leichtfertigkeit und Selbstgerechtigkeit seines Gelästers.

Vollmers Essay führt die Gedanken zu Krieg und Frieden fort, die sie schon im Mai 2022 in einem SZ-Gespräch entwickelt hat und in dem sie sich verzweifelt gefragt hat, wo denn in ihrer Partei die Friedensbewegung geblieben sei. Jetzt, neun Monate später ist die frühere Grünenpolitikerin, die bald achtzig Jahre alt wird und schwer krank ist, noch verzweifelter als damals.

Kein Ausweg, keine Perspektive?

Vollmer schildert eingangs eine Szene vom heimischen Bahnhof, sie wartet auf den ICE:

„Plötzlich näherte sich auf dem Nebengeleis ein riesiger Geleitzug, vollbeladen mit Panzern – mit Mardern, Geparden oder Leoparden. Ich kann das nicht unterscheiden, aber ich konnte geschockt das Bild lesen. Der Transport fuhr von West nach Ost.

Es war nicht schwer, sich das Gegenbild vorzustellen. Irgendwo im Osten des Kontinents rollten zur gleichen Zeit Militärtransporte voller russischer Kampfpanzer von Ost nach West. Sie würden sich nicht zu einer Panzerschlacht im Stile des Ersten Weltkriegs irgendwo in der Ukraine treffen.

Nein, sie würden diesmal erneut den waffenstarrenden Abgrund zwischen zwei Machtblöcken markieren, an dem die Welt sich vielleicht zum letzten Mal in einer Konfrontation mit möglicherweise apokalyptischem Ausgang gegenübersteht. Wir befanden uns also wieder im Kalten Krieg und in einer Spirale der gegenseitigen existentiellen Bedrohung – ohne Ausweg, ohne Perspektive. Alles, wogegen ich mein Leben lang politisch gekämpft habe, war mir in diesem Moment präsent als eine einzige riesige Niederlage.“

Das Testament einer Pazifistin

Vollmer denkt darüber nach, warum und wie alles so schrecklich geworden ist, wie es ist: „Warum nur fand ausgerechnet Europa, dieser Kontinent mit all seinen historischen Tragödien und machtpolitischen Irrwegen, nicht die Kraft, zum Zentrum einer friedlichen Vision für den bedrohten Planeten zu werden?“

Vollmers Text ist ein bitterer Abschiedsbrief: „Gerade die Grünen, meine Partei, hatte einmal alle Schlüssel in der Hand zu einer wirklichen neuen Ordnung einer gerechten Welt … Wer die Welt retten wollte, musste ein festes Bündnis zwischen Friedens- und Umweltbewegung anstreben … Wir hatten dieses Zukunftsbündnis greifbar in den Händen. Was hat die heutigen Grünen verführt, all das aufzugeben für das bloße Ziel, mitzuspielen beim großen geopolitischen Machtpoker, und dabei ihre wertvollsten Wurzeln … verächtlich zu machen?“

Vollmers Text endet mit einem Vermächtnis, einem politischen Testament: „Wer die Welt wirklich retten will, diesen kostbaren, einzigartigen und wunderbaren Planenten, der muss den Hass und den Krieg gründlich verlernen. Wir haben nur diese eine Zukunftsoption.“

Zwischen den Fronten, jenseits der Fronten

Das ist bewegend, das ist ergreifend, todernst und tiefschürfend, da verbietet sich jede Häme. Vielleicht lernt man an und mit Antje Vollmer, dass unsere Diskussionen über Krieg und Frieden bösartige Unterstellungen vermeiden müssen und die verächtliche Abwertung derer, die anderer Meinung sind.

Antje Vollmer ist eine Politikerin, die in ihrer ganzen politischen Laufbahn für Versöhnung geworben hat. Sie gehörte 1985 mit Waltraud Schoppe und Annemarie Borgmann zum legendären Dreierführungsgremium der Grünen; zum ersten Mal in der deutschen Parlamentsgeschichte bestand ein Fraktionsvorstand nur aus Frauen.

Vollmer war eine grüne Frau, auf die man schaute, sie vermittelte zwischen den Fronten der „Fundis“ und der „Realos“ und trieb den innerparteilichen Erneuerungsprozess voran. Ihr erstes großes politisches Versöhnungsthema war die RAF. Sie hat versucht, den Terrorismus durch Dialog zu beenden. Das habe, so sagt sie, dazu beigetragen, dass „wir in Deutschland diesen Terrorismus nicht mehr haben“; das war auch so.

Ihr zweites Versöhnungsthema war, von der Sudetendeutschen Landsmannschaft heftigst ausgepfiffen, die Aussöhnung und Verständigung der Deutschen und der Tschechen. Die dritte Versöhnung hat sie nicht geschafft; sie versuchte, zwischen der chinesischen Regierung und dem Dalai Lama zu vermitteln. Und dann, das sieht sie als ihre größte Niederlage, schaffte sie es nicht, den Weg ihrer Partei in den Menschenrechtsbellizismus zu stoppen.

Pazifismus als Realismus

Sie wurde belächelt, sie wurde kritisiert und beschimpft. Vielleicht gelingt es Antje Vollmer noch, den Respekt vor dem und für den Pazifismus wieder ein wenig aufzufrischen – weil er der wahre Realismus ist, wenn er so ist, wie ihn der Diplomat und Völkerrechtler Hans-Peter Kaul einst beschrieben hat.

Hans-Peter Kaul hatte eine Schlüsselrolle in den internationalen Bestrebungen, aggressive Kriegsführung zu kriminalisieren. Durch seinen Einsatz wurde das Verbrechen der Aggression in die Liste der Verbrechen des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs aufgenommen. Von 2003 bis 2014 war Hans-Peter Kaul dann Richter an diesem Gericht, am internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, er war der erste Deutsche dort.

In einem Interview, es war das letzte vor seinem Tod im Jahr 2014, wurde er gefragt: „Sind Sie Pazifist?“ Kauls Antwort: „Ja, ich bin im Laufe meines Lebens ein Pazifist geworden, der nur in absolut äußersten Notfällen den Einsatz bewaffneter militärischer Gewalt tolerieren kann. Denn sie führt fast automatisch zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen. Es gibt keinen Militäreinsatz ohne Verbrechen.“

Wo endet die Nothilfe, wo beginnt der Nothilfeexzess?

Was Kaul da benennt, ist der militante Pazifismus, wie ihn Sigmund Freud und Albert Einstein vertreten haben. Der jahrzehntelange Friede in Europa war ja nicht ohne Waffen geschaffen worden. Nicht mit gutem Zureden, sondern mit Waffen wurden die Nazis besiegt. Aber wer hatte die Nazis groß gemacht? Die Pazifisten etwa? Sie haben dem aufgeblasenen Militarismus die Luft abgelassen. Eine Befriedung des Kontinents ohne Friedensbewegung ist nicht vorstellbar.

Kaul, der strafrechtliche Verfolger von Aggressionsverbrechen, hätte wohl die militärische Nothilfe für die Ukraine als einen der „absolut äußersten Notfälle“ bezeichnet, in dem man „den Einsatz bewaffneter militärischer Gewalt tolerieren kann“. Gewiss hätte er dann aber darüber sinniert, wo die Nothilfe endet und der Nothilfeexzess beginnt. Kaul hätte dafür, soweit darf man spekulieren, wenn man die Tonlage der heutigen Debatte hört, schrilles Gepfeife aus dem Lager der Verneiner jeglicher Waffenhilfe geerntet und sich anhören müssen, er sei ein Kriegstreiber und Bellizist und solle sich doch selbst in einen Panzer setzen und an die Front gehen.

Die Fastenzeit hat begonnen, die Vorbereitung auf Ostern also – Ostern ist Auferstehung, Ostern ist Frieden. Frieden liegt aber nicht als Osterei im Nest. Der Frieden ist im Ukraine-Krieg noch ein ungelegtes Ei. Aber das Nest kann man schon mal bauen, man kann die Materialien dafür sammeln, es flechten – und darüber verhandeln, wie man verhandeln könnte, darüber reden, wie man miteinander reden könnte. So wie das vor 375 Jahren im Westfälischen Frieden gelungen ist. Ich hoffe auf ein solches Gelingen.


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