Er hatte keine Chance, aber er nutzte sie: Wie der amtierende Bundespräsident zu einer zweiten Amtszeit kommt und der 13. Februar zu einem für ihn triumphalen Tag wird.

Von Heribert Prantl

Als vor Jahrzehnten Herbert Achterbuschs Film „Die Atlantikschwimmer“ ins Kino kam, hatte der junge Frank-Walter Steinmeier gerade seinen Wehrdienst in Goslar hinter sich und sein Studium der Rechtswissenschaft an der Justus-Liebig-Universität in Gießen angefangen. Seine eindrucksvolle politische Karriere begann er dort als Mitglied der Juso-Hochschulgruppe und als Finanzreferent im AStA. Es deutete 45 Jahre lang nichts darauf hin, welchen Einfluss der Briefträger Heinz, eine Hauptfigur im genannten Film, auf Steinmeier gehabt haben muss. Aber das Handeln Steinmeiers im Mai 2021, als er sich um eine zweite Amtszeit als Bundespräsident bewarb, erklärt sich dann, wenn man den Satz kennt, mit dem der wunderlich-anarchisch-bayerische Film über „Die Atlantikschwimmer“ endet.

Ich muss ein wenig ausholen. Mit dem Münchner Milieu, in dem dieser Film spielt, hat man, wenn man wie Steinmeier in Detmold geboren und in Brakelsiek aufgewachsen ist, eigentlich gar nichts am Hut. Aber das Exotische, das Fremde und Ausländische muss einen Mann, der es noch zum Außenminister und Chefdiplomaten bringen sollte, schon früh interessiert und fasziniert haben. In dem genannten Film wollen der Briefträger Heinz und der Bademeister Herbert den Atlantik durchschwimmen, um so der quälenden Enge ihrer Heimat zu entfliehen. Am Ende des Films und nach einer Fülle von verquer-hintersinnigen Dialogen sieht man, wie der eine in Teneriffa hinausschwimmt aufs Meer. Der Kommentar des anderen: „Du hast keine Chance, aber nutze sie“. So endet der Film.

Im tiefen Keller

Keine Chance: Das war die Situation, als Steinmeier im Mai 2021 ankündigte, dass er sich um die Wiederwahl als Bundespräsident im Februar 2022 bewerbe. Damals glaubte kaum jemand daran, dass ihm das gelingen könnte. Die SPD war im tiefen Keller, ihre Umfragewerte miserabel, Steinmeier hatte eine Mehrheit in der Bundesversammlung nicht im Entferntesten in Aussicht; er trat zur Wiederwahl an, ohne jede Garantie, gewählt zu werden. Aus einem Mann, der trotz seiner langen politischen Karriere als politisches Betatier galt, wurde ein Alphatier. Kaum jemand hat damals auf ihn gesetzt; er ging ins Risiko, und die öffentliche Reaktion darauf war mitleidiger Respekt.

„Du hast keine Chance, aber nutze sie“: Wie das beim Atlantikschwimmer ausgegangen ist, war nicht mehr Gegenstand des Achternbusch-Films; aber man kann das Unglück erraten. Bei Steinmeier weiß man, wie die Sache ausgeht, und es ist kein Unglück, sondern ein unwahrscheinliches Glück für ihn, ja mehr: Es ist ein Mirakel, es ist das Steinmeier-Mirakel: Frank-Walter Steinmeier wird am 13. Februar mit großer Mehrheit, mit den Stimmen von SPD, Grünen, FDP und wohl auch der CDU/CSU zum zweiten Mal zum Bundespräsidenten gewählt werden.

Drei sozialdemokratische Bundespräsidenten gab es bisher, Steinmeier wird der erste sein mit einer zweiten Amtszeit. Gustav Heinemann, der erste sozialdemokratische Bundespräsident, ist kein zweites Mal angetreten. Johannes Rau, er war der zweite sozialdemokratische Bundespräsident, auch nicht. Die Mehrheitsverhältnisse waren jedes Mal so, dass eine Wiederwahl unwahrscheinlich erschien. Und sie wollten nicht das Risiko eingehen, in der Bundesversammlung als dann noch amtierende Präsidenten einem Gegenkandidaten oder einer Gegenkandidatin zu unterliegen.

Dem kälbert der Ochs

Steinmeier ging das Risiko ein – und gewann. Wie ihm, dem 12. Bundespräsidenten, das gelungen ist? Es war viel, viel Glück dabei: Da war die krachende Wahlniederlage der Laschet-CDU bei der Bundestagswahl; da sind die für Steinmeier günstigen Konstellationen der Ampelkoalition; da ist das Faktum, dass die anderen eine überzeugende Kandidatin oder einen bestechenden Kandidaten nicht hatten. Roman Herzog, er war der siebte Bundespräsident und für seine markige Sprache bekannt, hätte das günstige Schicksal seines Nach-Nach-Nachfolgers mit einer alten Volksweisheit kommentiert: Wem das Glück wohl will, dem kälbert der Ochs.

Altkanzler Gerhard Schröder hat Steinmeier, es war kurz vor dessen erster Wahl zum Bundespräsidenten, für eine „gelungene Mischung aus Administration und Politik“ gehalten. Diese Steinmeier-Mischung sah so aus: Leiter von Schröders persönlichem Büro, Chef der politischen Abteilung, Staatssekretär, Kanzleramtschef, Außenminister. Wäre es nach Schröder gegangen, wäre Steinmeier nicht im Jahr 2017 Bundespräsident, sondern im Jahr 2007 Bundeskanzler geworden. Wenn Schröder 2005 noch einmal zum Kanzler gewählt worden wäre, er hätte ihm, so sagte er im Januar 2017, kurz vor der ersten Wahl Steinmeiers zum Staatsoberhaupt, in der Mitte der Legislaturperiode das Kanzleramt übergeben. Steinmeier könne nämlich, so Schröder damals, fast alles, nur nicht Wahlkampf. Er ist halt keine Rampensau.

„Du hast keine Chance, aber nutze sie“: Nachträglich schwant mir, dass der Satz auch Steinmeiers Motto gewesen sein könnte, als er im Auftrag von Kanzler Schröder der Architekt von Hartz IV wurde. Du hast keine Chance, aber nutze sie: Für die Arbeitslosen, die das Opfer von Hartz IV wurden, war das ein ganz perfider Rat. Steinmeier gab ihnen keine Chance. Hartz IV war und ist eine für sie demütigende Angelegenheit. Im Jahr 2009 trat Steinmeier dann vergeblich als Kanzlerkandidat der SPD gegen Angela Merkel an und erzielte ein nur sehr mäßiges Ergebnis. Beim Kandidatenduell im Berliner Fernsehstudio war ich dabei – und habe mich darüber gewundert, wie Steinmeier an Hartz-IV-Details noch verbissen festhielt, als selbst der damalige FDP-Chef Guido Westerwelle sich davon schon verabschiedet hatte.

Steinmeier war keine Rampensau, er war meist ein vorsichtiger Tüftler. Aber auch aus dieser Rolle kann man herauswachsen: Als Bundespräsident wurde Steinmeier zum offensiven Tüftler. Er hatte keine Chance zur Wiederwahl, aber er hat sie offensiv tüftelnd erfolgreich genützt.

Die Wegweisung

Bundespräsidenten wirken durch ihre Reden. Das ist ein bundesrepublikanischer Kernsatz. Steinmeier ist kein furioser Redner; aber seine Reden haben Substanz, Gehalt und Tiefe. Es ist falsch, wenn gesagt und geschrieben wird, er habe bisher keine bedeutenden Reden gehalten; es waren viele, und viele sehr gute. Der historische Rang seiner Reden zur Geschichte der Demokratie ist bisher viel zu wenig erkannt worden. Steinmeier steht mit ihnen neben Richard von Weizsäcker, der in seiner berühmten Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes den 8.Mai 1945 als den „Tag der Befreiung“ bezeichnet hat. Steinmeier geht weiter zurück. Er holt die Wegbereiter der deutschen Demokratie aus dem Vergessen; er erinnert immer wieder an die demokratischen Revolutionäre von 1848; und er holt die deutsche Revolution von 1918 heraus aus der Abstellkammer der Demokratiegeschichte.

Steinmeier folgt der Wegweisung eines großen Vorgängers: Gustav Heinemann, der dritte Bundespräsident, wollte schon vor fünfzig Jahren die deutschen Freiheitsbewegungen „stärker als bisher im Bewusstsein unseres Volkes verankert wissen“. Er sprach damals vom „ungehobenen Schatz in der Vergangenheit“ und eröffnete kurz vor dem Ende seiner Amtszeit in Rastatt die „Erinnerungsstätte für die Freiheitsbewegungen in der deutschen Geschichte“. Steinmeier will stolz sein auf die Traditionen von Freiheit und Demokratie, ohne den Blick auf den Abgrund der Schoah zu verdrängen.

Robert Blum und Carl Schurz

Seit dem 9. November 2020 gibt es im Schloss Bellevue, dem Amtssitz des Bundespräsidenten, einen Robert-Blum-Saal – zum Gedenken an den populären Demokraten und Abgeordneten des Paulskirchen-Parlaments, der am 9. November 1848 vom kaiserlichen Militär in Wien standrechtlich erschossen wurde. Und in Kürze wird Steinmeier im Schloss Bellevue eine Büste von Carl Schurz aufstellen, dem radikal-demokratischen Revolutionär von 1848/49, der in die USA floh und dort eine politische, militärische und diplomatische Karriere machte. Schurz wurde von Präsident Abraham Lincoln zum US-Botschafter in Spanien ernannt, war Brigadegeneral der Nordstaaten im Amerikanischen Bürgerkrieg und dann jahrelang US-Innenminister.

Was eine zweite Amtszeit trägt

Er hatte keine Chance, aber nutzte und nutzt sie: Bundespräsident Steinmeier hat die gute Chance, die Erinnerungen an die Traditionen von Freiheit und Demokratie wieder wachzurufen; er nutzt sie auf treffliche Weise. Es ist so viel schiefgelaufen in der deutschen Demokratiegeschichte. Es darf nicht noch einmal schieflaufen. Die Demokraten dürfen sich nie mehr einschüchtern lassen. Diese Steinmeier-Botschaft trägt auch eine zweite Amtszeit.

 


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