Von der journalistischen Glaubwürdigkeit in analogen und in digitalen Zeiten: Wenn dem Journalismus Einseitigkeit vorgeworfen wird, soll der darauf nicht einfach nur sagen, dass das nicht stimmt; er soll zeigen, dass das nicht stimmt.
Von Heribert Prantl
Neulich im Zug, auf der Fahrt von München nach Berlin, saß mir ein Mann gegenüber, der einen Stapel von Zeitungen und Zeitschriften vor sich hatte. Er schien damit nicht sehr zufrieden zu sein. Er schaute mich eine Weile an und fragte dann, ob er mich etwas Ungewöhnliches fragen dürfe. Und er fragte mich dann tatsächlich etwas Ungewöhnliches. Er fragte nämlich, ob es unserem Land und unserer Gesellschaft nicht besser gehen würde, wenn es – nein, nicht für immer, aber für ein paar Wochen – keine Zeitungen, keine Nachrichten, keine Pressefreiheit gäbe. Er habe das Gefühl, es würde Alles bis zum Überdruss immer und immer wieder repetiert, es würden die Neuigkeiten wie ein Kaugummi ewig hin- und hergebissen und dann ausgespuckt. Vielleicht, so meinte der Mann, würden ja dann in den presse- und nachrichtenfreien Zeiten die Probleme, über die die Medien tagtäglich klagen, von den zuständigen Politiker schneller angepackt als mit der medialen Dauerbegleitung und Dauerbeschallung. Ein Lob für meine Profession, für den Journalismus, war das nicht.
„Spiegel tot, Freiheit tot“
Ich erzählte meinem Gegenüber deswegen von der Spiegel-Affäre und vom Spiegel-Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1966, in dem die Pressefreiheit als „ein Wesenselement des freiheitlichen Staates“ beschrieben wird. Ich erzählte, wie der damalige Verteidigungsminister Franz Josef Strauß nicht durchkam mit seinem Versuch, eine Zeitschrift beiseite zu räumen, die ihm politisch im Weg war. Ich schwärmte davon, wie die Bürger nach der Razzia im Verlag und der Redaktion des Spiegel, nach der Verhaftung von Rudolf Augstein und seiner leitenden Redakteure, empört, entsetzt und außer sich waren, wie sie aufstanden, protestierten, demonstrierten, wie sie „Spiegel tot, Freiheit tot“ skandierten – und wie dann nicht der Spiegel einging, wie es Strauß gewollt hatte, sondern Strauß als Minister gehen und der Obrigkeitsstaat abdanken musste. Das war eine Sternstunde der Demokratie, sagte ich.
Wegweiser im digitalen Wirrwarr
Das sei ja nun sechzig Jahre her, meinte der Mann im Zug. Damals seien die Medien, auch der Spiegel, glaubwürdiger gewesen als heute. Im Übrigen habe das Internet alles verändert. Es habe die bis dahin geltenden natürlichen Grenzen der Aktualität aufgehoben. Die Technik ermögliche es, Nachrichten in Echtzeit zu verbreiten, man könne ja nun bei Katastrophen und Anschlägen live dabei sein. Das aufgeregte und belehrende Getue der klassischen Medien brauche es da nicht mehr; es könne sich doch jeder selber sein Bild machen. Aus der distanzierten Öffentlichkeit sei nun eine miterlebende Öffentlichkeit geworden. Ich ging darauf ein: Weil es das Internet mit seiner schnellen Methode der Informationsvermittlung gebe, könne sich der Zeitungs- und Zeitschriftenjournalismus auf anderes konzentrieren: auf Analyse, auf Sprachkraft, Gründlichkeit und Tiefgang, auf die Gegenüberstellung verschiedener Betrachtungsweisen. Und ich ereiferte mich: Der klassische Zeitungs- und Zeitschriftenjournalismus könne Informationen destillieren, konzentrieren, auswerten und bewerten, er könne und müsse auf diese Weise Wegweiser sein im digitalen Wirrwarr. Da schüttelte der Mann mir gegenüber den Kopf und klagte: „Wenn es nur so wäre.“
An diese Unterhaltung im Zug von München nach Berlin habe ich mich die Rede des Bundespräsidenten erinnert, der zum hundertsten Geburtstag des Spiegel-Gründers Rudolf Augstein über eine „News-Erschöpfung“ klagte. Es gelinge, so Frank-Walter Steinmeier, immer mehr Lesern, Hörern und Zuschauerinnen kaum noch, in den sich „überstürzenden Nachrichtenlagen“ den Überblick und die Nerven zu behalten. Die Verarbeitungskapazität für schlechte Nachrichten sei bei vielen Menschen an die Grenze geraten. Steinmeier schilderte seine Erfahrungen aus seinen Treffen mit Bürgerinnen und Bürgern: „In einer Art Selbstschutz entscheiden sich manche dann, ganz abzuschalten, lieber gar keine Nachrichten mehr zur Kenntnis zu nehmen.“ Von solchen Nachrichtenverweigerern, so Steinmeier, träfe er ziemlich viele. „Andere wieder“, so setzte er fort, „ziehen sich zurück in eine Parallelwelt, in der Wahnsinn, Verschwörung und erfundene Wahrheit regieren.“
Dauerempörung als Indiz wofür?
Steinmeier klagte zu Recht über die steigende Zahl von Angriffen auf Journalistinnen und Journalisten, auf Kameraleute und Fotografen. Diese Angriffe seien keine Meinungsäußerungen, sondern Straftaten. Steinmeier beklagte die dominante Maßlosigkeit der sozialen Medien in der politischen Kommunikation und er riet dem professionellen Journalismus zur Distanz. „Bleiben Sie unterscheidbar von den sozialen Medien! Erliegen Sie nicht der Versuchung, sich die Kultur der Dauerempörung zu eigen zu machen … Lassen Sie nicht zu, dass in unserer Demokratie die Lauten über die Nachdenklichen siegen.“ Der Bundespräsident klagte über die sozialen Medien in seiner Rede als „Agenten der Aufregungsbewirtschaftung“. Er hatte nicht so viel übrig für die Blogger und Twitterer, für die Influencer, die Podcaster und sonstigen Internet-Aktivisten. Bei aller berechtigter Kritik an der Unkultur der Dauerempörung – vielleicht macht er es sich da etwas zu einfach. Vielleicht ist ja diese Dauerempörung ein Indiz dafür, dass was faul ist im Staate Deutschland.
Mit dem Internet ist, so hat es SZ-Kollege Dirk von Gehlen einmal formuliert, der „mediale Frontunterricht“ zu Ende gegangen. Jede und jeder ist in der Lage, selbst zum Sender von Information und Meinung zu werden. Jetzt komme es, sagt Gehlen, für Journalisten darauf an, ein Forum führen zu können. Vielleicht hängt das verbreitete Misstrauen gegen den Profi-Journalismus damit zusammen, dass das noch nicht gut funktioniert. Wenn dem Journalismus Einseitigkeit vorgeworfen wird, soll der Journalismus darauf nicht sagen, dass das nicht stimmt, sondern zeigen, dass das nicht stimmt.
Journalisten als Edelblogger
Man sollte nicht so tun, als sei die Bloggerei eine Seuche, die via Internet übertragen wird und den professionellen Journalismus auffrisst. Das ist Unfug. In jedem professionellen Journalisten steckt ein Blogger. Der Blog des professionellen Journalisten heißt Spiegel, FAZ, WAZ oder Süddeutsche Zeitung. Der sogenannte klassische Journalist hat dort seinen Platz und er hat ihn in der Regel deswegen, weil er klassische Fähigkeiten hat, die ihn und sein Produkt besonders auszeichnen. Es gibt das etwas altbackene Wort „Edelfeder“ für Journalisten, die mit der Sprache besonders behände umzugehen vermögen. Der professionelle Journalist ist, wenn man bei diesem Sprachgebrauch bleiben will, eine Art Edelblogger.
Es gibt in Deutschland 22 000 Richterinnen und Richter; aber es gibt viel, viel mehr Leute, die sich auch täglich ihr Urteil bilden. Es gibt in Deutschland einige hunderttausend Polizisten. Aber es gibt noch viel mehr Leute, die auch ganz gut darauf aufpassen, was in ihrer Umgebung passiert. Es gibt zigtausend examinierte Pädagogen und Erzieher in Deutschland. Aber es gibt viel, viel mehr Leute, Mütter und Väter, die Kinder erziehen, ohne dass sie das studiert haben. Die Leute, die sich ihr Urteil bilden, ohne dass sie Jura studiert haben, machen Richter nicht überflüssig. Die Leute, die sich um ihr Wohnviertel kümmern, machen Polizisten nicht überflüssig. Und die Eltern, die ihre Kinder erziehen, machen Pädagogen nicht überflüssig. So ist das mit dem Journalismus auch.