Die Großrazzia und die serienweisen Verhaftungen sind der späte Versuch, jahrzehntelange Untätigkeit der Sicherheitsbehörden zu beenden und auszugleichen. Muss man diese lächerlichen Reichsbürger so ernst nehmen?

Von Heribert Prantl

Die Großrazzia gegen die braune Prinzengarde und die Verhaftung von gut zwei Dutzend sogenannten Reichsbürgern ist nicht einfach nur ein Akt der Repression und der Prävention. Es ist dies auch der Versuch einer Wiedergutmachung: Jahrzehntelang herrschte ein Klima des Wegschauens. Der Staat hat den Rechtsextremismus jahrzehntelang nicht richtig ernst genommen. Der Staat hat sich schuldig gemacht, zumindest durch brutale Untätigkeit, und diese Schuld kulminierte in den Morden der Terrorbande NSU.

Die Großaktion der vergangenen Woche gegen die von einem Altadligen angeführte Gruppe von sogenannten Reichsbürgern ist eine Aktion, die auch zeigen soll: „Wir, die Ermittler, und wir, die Strafverfolger, wir alle, die staatlichen Kräfte der inneren Sicherheit, wir haben wirklich etwas gelernt: Wir haben gelernt, dass es nicht nur einen Linksterrorismus und einen islamistischen Terrorismus gibt, sondern auch einen Rechtsterrorismus. Und wir haben gelernt, dass dieser Rechtsterrorismus gespeist wird von obskuren Gruppen aus dem Spektrum der sogenannten Reichsbürger.“

Der neobraune Magnetismus

Der Umfang der Aktion der Bundesanwaltschaft – dreitausend Polizeibeamte kamen zum Einsatz – entspricht der Dimension der jahrzehntelangen Gleichgültigkeit. Linksextremisten, so war es lange Zeit, galten als klug und gefährlich, Rechtsextremisten als dumm und ungefährlich. Der Gesetzgeber produzierte zwar seit den Siebzigerjahren Strafparagrafen am laufenden Band, angewendet wurden sie gegen die Linksextremisten, gegen die Linksextremisten und noch einmal gegen die Linksextremisten. Schon 1980 kamen bei Anschlägen neonazistischer Terrorgruppen 17 Menschen ums Leben. Politiker, Polizei und Justiz aber sagten: Einzeltäter, Einzeltäter, Einzeltäter. Der Staat war so fixiert auf die RAF, dass er nicht zur Kenntnis nahm, wie Ende der Achtzigerjahre dem organisierten Rechtsextremismus der Generationensprung aus dem Ghetto der Altherrenvereine gelang.

Auf dem Landesparteitag der NPD 1985 im nordrhein-westfälischen Wiehl waren siebzig Skins mit dem Versammlungsschutz beauftragt. Gleichwohl waren sie damals für den Verfassungsschutz „keine gezielten Beobachtungsobjekte“. Insbesondere den Republikanern gelang es dann, Teile der rechtsextremen Skinhead- und Fußballfan-Subkulturen an sich zu ziehen. Aber verglichen mit dem neobraunen Magnetismus, der heute die AfD auszeichnet, war das alles nur ein Vorspiel. Der Rechtsradikalismus und der Rechtsextremismus wurden mit der AfD deutschlandweit zur parlamentarischen Kraft.

Bei der Großaktion des Staatsschutzes gegen die obskure Gruppe der sogenannten Reichsbürger geht es also auch um den Versuch, alte Fehler nicht zu wiederholen und die alte Blindheit auf dem rechten Auge jetzt wettzumachen. Diese Blindheit und diese Fehler kulminierten in der NSU-Mordserie von 2000 bis 2006. Die NSU-Morde hätten verhindert werden können, wenn der Landesverfassungsschutz in Thüringen das nicht verhindert und wenn die Polizei dort ermittelt hätte, wo sie hätte ermitteln müssen. Es herrschte ein Klima des Wegschauens. Der Verfassungsschutz hatte es damals ermöglicht, dass gesuchte und flüchtige Neonazis im Untergrund bleiben konnten. Er hatte die Neonazi-Szene vor den ohnehin mickrigen Ermittlungen der Polizei gewarnt. Der Verfassungsschutz hat mit dieser Szene in einer Weise gearbeitet, die die Juristen Kollusion nennen: Er hat verdunkelt und verschleiert.

Eine Geschichte der Verdrängung und Verharmlosung

Das ist nicht Spekulation, das ist die Erkenntnis aus der akribischen Arbeit von parlamentarischen Untersuchungsausschüssen. Die Behörden haben seinerzeit nicht nur versagt, sie waren nicht nur unfähig. Sie waren offenbar dazu fähig, die Ergreifung der Verbrecher bewusst fahrlässig oder bedingt vorsätzlich zu verhindern. Es gibt, so seinerzeit der Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses in Thüringen im Jahr 2014, „den Verdacht gezielter Sabotage“. Es war und ist dies ein Verdacht, der einen schier verrückt werden lässt. Der Staat konnte und kann sich da nicht entschulden oder entschuldigen. Er konnte die Angehörigen der zehn Opfer, die vom Nationalsozialistischen Untergrund ermordet wurden, nur um Verzeihung und Vergebung bitten. Und er kann es besser machen – er kann den neobraunen Gefahren rechtzeitig entgegentreten.

Vor diesem Hintergrund muss man die Großaktion gegen die braune Prinzengarde sehen. Es ist der Versuch zu zeigen: Wir haben gelernt, wir haben verstanden! Politik und Behörden sind jetzt hochsensibilisiert – spätestens seitdem im Jahr 2020 die katastrophalen Nachrichten aus der Bundeswehr kamen; es wurde damals bekannt, dass beim KSK, beim Kommando Spezialkräfte, aggressiver Nationalismus, Neonazismus und Rassismus zu Hause sind. Im KSK, so erfuhr damals die entsetzte Öffentlichkeit, dienen Soldaten, die rechtsextreme Symbole verwenden. Dort war, wie die damalige Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer klagte, eine „toxische Verbandskultur“ entstanden; dort verschwand Munition und wurde privat gebunkert. Es gab beim KSK, so die damalige Verteidigungsministerin, eine Unterwanderung durch Rechtsextreme. Kramp-Karrenbauer hat damals die zweite Kompanie des KSK deswegen aufgelöst. Von „Einzelfällen“ könne man nicht mehr ausgehen; aber man habe auch noch keine „Untergrundarmee“ entdeckt, sagte damals, das war Mitte 2020, Christof Gramm, der damalige Präsident des Militärischen Abschirmdienstes MAD.

Vollgepumpt mit Hetze

Das sollte beruhigend klingen, war es aber nicht. Tatsache war, dass bei einem als rechtsextrem eingestuften Bundeswehr-Reservisten eine Liste mit Daten von Spitzenpolitikern gefunden worden war. Tatsache war, dass Waffen und Munition im großen Umfang verschwunden waren. Die überwiegende Mehrheit der Soldatinnen und Soldaten sei verfassungstreu, sagte der MAD-Chef. Nur die überwiegende Mehrheit? Schon der Satz war alarmierend. Die Umtriebe in der Bundeswehr waren eingebettet in eine jahrzehntelange Geschichte der Verdrängung und Verharmlosung von Rechtextremismus, die bis in die jüngste Vergangenheit reichte. Im Strafprozess nach dem Mord an Walter Lübcke wurde deutlich, wie der Täter sozialisiert worden ist, wie er sich mit Hetze gegen Flüchtlinge vollgepumpt hat, wie er von rechtsextremen Anschlägen schwärmte, vom Oktoberfestattentat in München bis hin zu NSU-Verbrechen. Wer sich all das vor Augen führte, der wusste: Die braunen Untaten sind nicht nur Vergangenheit, sie sind noch unter uns.

Das Lächerliche ernst nehmen

Das war auch schon die Erkenntnis aus dem NSU-Verfahren gewesen. Die Mörder vom Nationalsozialistischen Untergrund waren keine Einzeltäter, sie waren Teil eines braunen Netzwerks, sie gehörten zu einem giftigen Milieu, in dem sie sich aufgehoben fühlen konnten. Bestraft wurden in den NSU-Prozessen nur eine einzelne Täterin und ein paar Gehilfen. Zwei der Mittäter hatten sich umgebracht; das braune Netzwerk war nicht angeklagt. Um dieses Milieu ging es jetzt beim Zugriff auf die obskure Prinzengarde der sogenannten Reichsbürger.

Ein gewaltbereiter und gewalttätiger Rassismus hätte frühzeitig stigmatisiert werden müssen. Es wäre gut gewesen, wenn das Bundesverfassungsgericht das schon 2003 getan hätte. Damals lief das erste von zwei erfolglosen Verbotsverfahren gegen die NPD. Die rechtsradikale Szene fühlt sich zumal seit dem zweiten gescheiterten NPD-Verbot von 2017 besonders stark. Das Verfassungsgericht hat damals ein Verbot der NPD mit einer sehr eigenwilligen Begründung abgelehnt: Sie galt dem höchsten Gericht zwar als verfassungsfeindlich, aber nicht als einflussreich, nicht als gefährlich genug, um sie zu verbieten; die NPD habe, so hieß es, nicht genügend Wirkkraft. Die AfD hat heute diese Wirkkraft, ihre Geschichte ist die Geschichte einer ständigen Radikalisierung. Ihr heimlicher Vorsitzender ist der Neonazi Björn Höcke, Mitglied des thüringischen Landtags. Spätestens mit ihm hat sich die AfD in eine völkische Partei verwandelt. Aber es ist offensichtlich so: Die NPD war zu klein und zu unbedeutend, um sie zu verbieten. Die AfD ist nun zu groß und zu bedeutend. Die Verfolgung der braunen Prinzengarde ist daher auch eine Ersatzhandlung.

Die Verhafteten wirken wie Witzfiguren, wie lächerliche Gestalten. Aber der Historiker Stephan Malinowski mag da nicht unbedingt mitlachen. Er sagt: „Meine Formel wäre, als Lektion aus dem 20. Jahrhundert, man muss im Politischen das Lächerliche ernst nehmen.“


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