Guten Tag,

es hat sehr lange gedauert, bis Justiz und Gesellschaft gelernt haben, dass rasende Prahlsucht ein Verbrechen sein kann. Diese Erkenntnis ist aber noch nicht sehr weit gediehen, sie beschränkt sich auf den Straßenverkehr. Diese Erkenntnis gilt noch nicht für Wirtschaft und Politik; im Gegenteil – dort wird sie gepriesen. Wenn alte Männer, weil sie unendlich viel Geld haben, sich im Weltraum ein Raketenrennen liefern, werden sie gefeiert. Wenn junge Männer, weil sie unendlich viel Testosteron haben, sich auf dem Ku’damm ein Autorennen liefern, werden sie bestraft. Bei allen Unterschieden dieser Fälle: Die einen gelten als Visionäre, die anderen als Deppen. Letztere werden zu Recht als Mörder bestraft. Die anderen werden als Wirtschaftsgenies belobigt – obwohl (oder gerade weil) sie einen destruktiven Kapitalismus in den Weltraum tragen. Gefährliche Angeber sind sie aber alle.

Wenn junge Leute in ihren aufgemotzten Autos mit irrwitziger Geschwindigkeit über den Berliner Ku’damm oder den Münchner Isarring rasen, wenn sie rote Ampeln überfahren und Menschen dabei zu Tode kommen, dann ist das nicht einfach nur, so wie das lange gesehen wurde, eine Fahrlässigkeit mit tödlichem Ausgang. Es ist Mord mit bedingtem Vorsatz. Die Tatbestandsmerkmale sind niedrige Beweggründe und Heimtücke, und das rasende Auto ist dabei ein gefährliches Werkzeug. Die Berliner Strafrichter sagten in ihrem Urteil gegen die Ku’damm-Raser: Selbstverliebt und rücksichtslos seien sie gewesen, ihre Fahrzeuge hätten sie förmlich vergöttert. Hochmütige Unvernunft, rasende Prahlerei, Hybris und Machtrausch – diese Mischung ist tödlich, nicht nur auf dem Ku’damm.

Wenn sich Jeff Bezos und Richard Branson (und im September auch Elon Musk) ins All schießen lassen, weil sie sich das als Milliardäre leisten können und sie auf diese Weise Werbung machen für galaktische Geschäftsideen aller Art, dann kann man in Wirtschaftsmagazinen lesen: Das sei nicht nur ein Kräftemessen der Milliardäre, das sei nicht nur ein Kick für Hochprivilegierte, das sei die „Zukunft“ der Ökonomie. Solche Lobhudeleien sind Beihilfe zum Irrsinn.

Die Ausbeutung des Weltraums

Es gilt auch hier und hier erst recht der Satz von Papst Franziskus: Diese Wirtschaft tötet. Sie macht den Weltraum zum Kolonisationsgebiet von Kommerzinteressen, sie bemächtigt sich des Himmels als Ressource. Der Großkapitalist Bezos will mit seinem Raumfahrtunternehmen Blue Origin den Mars kolonisieren und in weniger als zehn Jahren eine Million Menschen dorthin befördern. Die Menschheit solle dort, sagt er, eine gute Zukunft haben. Wäre es nicht gut, wenn die Menschheit erst einmal auf ihrem Planeten eine gute Zukunft hätte?

Musk betreibt das Raumfahrtunternehmen SpaceX und schießt Hunderte Satelliten in erdnahe Umlaufbahnen. Bisher sind es 900; insgesamt 12 000 Satelliten sind angeblich bis zum Jahr 2027 genehmigt, Anträge für weitere 30 000 Satelliten sollen schon vorliegen. Die Ausbeutung der Erde und die Zerstörung der Natur der Erde, die jetzt mit Klimaschutzabkommen und Green Deals gestoppt werden soll, wird von Musk und Co. im Weltraum ungeniert fortgesetzt. Der Himmel, der Ressource für die gesamte Menschheit sein soll, wird kommerzialisiert, um weltweit Internet-Zugänge anbieten zu können. 99 Euro soll der Anschuss pro Monat kosten, plus einmalige Kosten von 499 Euro für das Starter-Set.

Der Himmel auf Erden, die Erde im Himmel

Die Satelliten, die dieses Geschäft ermöglichen, kann man dann wie eine Lichterkette am Himmel bestaunen, weil sie bei der Umrundung der Erde immer wieder von der Sonne angestrahlt werden. Man wird in Zukunft womöglich mehr Satelliten als Sterne am Nachthimmel sehen. Das ist der Triumph des orbitalen Kapitalismus. Die Lebensdauer der Satelliten ist nicht sehr hoch. Die Erdumlaufbahn wird mit aktiven und mit ausgeglühten Satelliten vermüllt. Der Orbit als Müllhalde? Und: Sollte der Himmel nicht Allgemeingut sein? Sollte das All nicht allen gehören? Der Himmel auf Erden ist eine schöne Vision. Die Erde im Himmel ist die Hölle.

Fast gleichzeitig mit den Meldungen über die Raketenflüge von Branson und Bezos wurde im Juli 2021 der neue Welternährungsbericht veröffentlicht; er fand nicht besonders viel Aufmerksamkeit. 811 Millionen Menschen hungern, sagt diese Statistik, es sind dies 161 Millionen mehr als im Jahr zuvor, als im Jahr 2019. 811 Millionen Menschen sind unterernährt, also etwa ein Zehntel aller Menschen. Ein Zehntel: Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun – und du bist die Zehn, du musst vergeh‘n. In Afrika hat der Hunger am meisten zugenommen, die Unterernährungsquote dort liegt bei 21 Prozent und damit doppelt so hoch wie überall sonst. Wie kann das sein in einer Welt, in der es mehr als genug Nahrung gibt? Akut ist auch und vor allem Corona schuld. Die Pandemie raubt den Ärmsten ihre Jobs und verteuert die Lebensmittel.

Der Kapitalismus krallt sich den Himmel

Vom UN-Ziel der Agenda 2030, bis zum Jahr 2030 den Hunger weltweit zu besiegen, ist die Realität immer weiter entfernt. Die Kollegin Christiane Grefe von der Zeit, eine kluge Expertin für Ökologie und Globalisierung, nennt zur Bekämpfung des Hungers drei Prioritäten: Erstens müssen die Wohlhabenden aufhören zu essen, als gäbe es kein Morgen. Zweitens müssen die Hilfsorganisationen mithilfe fester Budgets gestärkt werden; sie sollen nicht bei jeder Krise betteln müssen. Und drittens muss Schluss damit sein, weltweit den unterschiedlichen Landschaften und Kulturen die immer gleichen Gewächse und industriellen Methoden zu diktieren; es braucht eine neue Vielfalt an Getreiden, Früchten und Bäumen; diese Vielfalt kann auch dem Klimawandel besser trotzen. Und viertens, so füge ich hinzu, muss verhindert werden, dass ein destruktiver und tödlicher Kapitalismus sich auch noch den Himmel krallt.

David Beasley, der Direktor des Welternährungsprogramms, hat Ende Juni einen Tweet verbreitet, in dem er zum wiederholten Male die Milliardäre dazu aufrief, sich zu melden, um die sechs Milliarden US-Dollar aufzubringen, die in diesem Jahr zusätzlich benötigt werden, um der Hungersnot entgegenzuwirken und weitere Hungertote zu vermeiden. Er schrieb an Branson, Musk und Bezos: „Ich bin so gespannt zu sehen, wer es zuerst in den Weltraum schafft! Aber ich würde lieber sehen, dass Sie sich zusammenschließen, um die 41 Millionen Menschen zu retten, die dieses Jahr auf der Erde verhungern werden! Es braucht dafür nur sechs Milliarden Dollar. Wir können das schnell lösen.“

Von Milliarden war in der vergangenen Woche auch die Rede, um alle Schäden, die die Flutkatastrophe gebracht hat, zu beseitigen. Es geht natürlich nicht einfach nur darum, dass die ganz Reichen jetzt ganz große Spenden machen. Es geht darum, mit einer fundamentalen Umverteilungspolitik zu beginnen. Die Klimapolitik gehört dazu; sie ist, wenn es gut geht, der Treiber einer klugen Umverteilungspolitik. Nicht die Satelliten von Herrn Musk gehören in die Umlaufbahn. In die Umlaufbahn gehört eine Politik, die Natur und Lebensgrundlagen achtet und die Armut bekämpft.

Zum Schluss noch Geburtstagsglückwünsche für zwei Politiker mit einer beeindruckenden Vita; beide haben nicht abgehoben, beide sind auf dem Boden geblieben: Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, FDP, wird am Montag 70; Erwin Huber, der frühere CSU-Generalsekretär und CSU-Chef, wird am Montag 75 Jahre alt. Die beiden liegen politisch weit auseinander, aber beide haben Charakter, beide sind unverwechselbar, beide geradlinig, kampferprobt und in ihrer Eigenart wunderbar bezeichnend für die Partei, der sie angehören.

Die Jeanne d’Arc der Bürgerrechte

Als „Schnarri“ das erste Mal Bundesjustizministerin wurde, kannte sie keiner; das war 1992 im Kabinett von Helmut Kohl. Als sie das zweite Mal Justizministerin wurde, das war 2009 im Kabinett von Angela Merkel, kannte sie fast jeder. Das lag daran, dass sie 1995 zurückgetreten war – weil sie den Kurswechsel der FDP hin zum „großen Lauschangriff“ nicht mitmachen wollte. Dieser Rücktritt hat Leutheusser-Schnarrenberger populär gemacht; dieser Rücktritt hat ihr Profil gegeben und einen Respekt verschafft, der bis heute anhält. Danach klagte sie erfolgreich vor dem Bundesverfassungsgericht gegen das Gesetz, das ihre Bundesregierung betrieben hatte – und gilt seitdem als Jeanne d’Arc der Bürgerrechte. Sie vertritt bis heute mit bemerkenswerter Beharrlichkeit linksliberale Positionen. Sie tut dies mit einer Klarheit, die ihre Partei vermissen lässt.

Der Bauerngraf der CSU

Erwin Huber ist ein Ausbund an Energie, Fleiß, Kraft. Er ist ein niederbayerischer Rackerer, einer, der sich aus allerkleinsten Verhältnissen nach oben gearbeitet hat. Seine alleinerziehende Mutter war Dienstmagd in der Landwirtschaft, als kleiner Bub lebte er mit ihr auf einem Einöd-Hof, ging morgens um fünf Uhr mit ihr aufs Feld. In der Schule fiel er schnell auf, „blitzgscheit“ nannten ihn seine Lehrer. Mittlere Reife mit 13 Einsern, Ausbildung für den gehobenen Finanzdienst, Abitur auf dem zweiten Bildungsweg, VWL-Studium. Er selbst beschreibt seinen Lebenslauf so: „Ministrant, Oberministrant, Minister“.

Der bekennende Katholik wurde groß in der Kolpingjugend und in der Jungen Union, lernte dort, wie man redet, agiert und agitiert, er wurde ein Großer in der CSU, wurde Generalsekretär, Minister und Chef der Staatskanzlei unter Stoiber, Finanzminister, Wirtschaftsminister, CSU-Chef nach Stoiber, Vorgänger von Seehofer. Manchen kam Huber vor wie der kleine Bruder von Stoiber, manche sahen in ihm den Gegenspieler von Seehofer. Er ist, anders als der, kein Sozialpolitiker, er ist ein Modernisierer, ein Wirtschaftsliberaler der CSU, einer, dem der Laptop noch wichtiger ist als die Lederhose. Er ist ein Bauerngraf Lambsdorff. Von den CSU-Politikern der vergangenen 30 Jahre ist er der habituell bayerischste.

Gute Sommerwochen wünscht Ihnen

Ihr Heribert Prantl,
Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung


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