Wie findet man an diesem Tag die richtigen Gesten und die richtige Sprache? Die Landwirtschaft ist Verursacher von Klimaschäden. Und die Landwirte sind auch die ersten Opfer von Starkregen, Hitze und Dürren.
Von Heribert Prant
Gott zu danken, fällt an diesem Sonntag leicht, selbst dann, wenn man nicht mehr an ihn glaubt. Da drückt man an diesem Tag schon mal ein ungläubiges Auge zu, weil die Erntekrone neben dem Altar so schön gewunden ist, weil die Früchteteppiche in den Kirchen so bunt gelegt sind und weil die Sonnenblumen und die Astern so herrlich über den mächtigen Brotlaiben schaukeln. Es ist Erntedank – und da lässt man Gott mitkommen, auch wenn es ansonsten ziemlich unüblich geworden ist, ein Tischgebet zu sprechen.
Schwerer als Gott zu danken ist es, denen zu danken, durch deren Hände die Lebensmittel gehen, also den Bauern – und das will etwas heißen in säkularen Zeiten. Den Bauern würden viele lieber auf die Finger klopfen, statt ihnen die Hand zu schütteln. Wenn zum Erntedank die Altäre geschmückt werden, fragt man nicht viel danach, ob die Kürbisse und Äpfel, die Maiskolben und Weizenkörner ohne Gentechnik und Spritzmittel gezogen sind, Hauptsache, sie sehen prachtvoll aus; ansonsten jedoch ist man da empfindlich geworden. Das gewachsene ökologische Bewusstsein ist gut, wichtig und großartig, aber es hat eine Kehrseite: Bauern ernten mehr Kritik als Dank.
Die Bauern brauchen und verdienen Verständnis
Ich will am Erntedanktag nicht die Probleme der Massentierhaltung, von Antibiotikaeinsatz, Bodenbelastung und Wasserverbrauch kleinreden. Aber es ist auch nicht fair, sich durch das verbale Verprügeln der Bauern ein gutes Gewissen zu verschaffen. Ohne Verständnis dafür, unter welch höllischem Druck die Bauern stehen, vor allem die mit kleinen und mittleren Betrieben, kann die nötige Transformation zur Rettung des Klimas nicht gelingen. Die Landwirtschaft ist nicht allein Verursacherin von Klimaschäden, die Landwirte sind auch die ersten Opfer von Starkregen, Hitze, Dürren.
Ein Erntedanklied par excellence ist das Lied „Nun danket alle Gott“. Es stammt aus der Barockzeit, wurde vielfach musikalisch bearbeitet – von Telemann, Bach und Mendelssohn Bartholdy unter anderem. Es gehört zu den weltweit bekannten deutschen Chorälen. Er wurde 1636 vom protestantischen Geistlichen Martin Rinckart als „Tisch-Gebetlein“ veröffentlicht. Solche Tisch-Gebetleins, Tischgebete also, wie sie jahrhundertelang üblich waren, werden kaum noch gebetet; das Erntedankfest erinnert auch an diesen Verlust. Es ist der Verlust der Erinnerung daran, wo Speis und Trank herkommen.
Wie der Dank an Gott missbraucht worden ist
Die Geschichte des Liedes „Nun danket alle Gott“ erinnert zugleich daran, wie dieser Dank an Gott immer und immer wieder missbraucht worden ist, um eigenen Taten und Untaten höhere Weihen zu geben. Das begann mit der Schlacht bei Leuthen im Siebenjährigen Krieg am 5. Dezember 1757, als der Preußenkönig Friedrich II. eine zahlenmäßig stark überlegene österreichische Armee besiegte. Am Abend nach der blutigen Schlacht sollen angeblich 25 000 preußische Soldaten spontan und gemeinsam den Dankchoral an den lieben Gott angestimmt haben. Augenzeugenberichte darüber gibt es zwar nicht, dafür umso mehr vaterländische Legenden und Mythen. Die Legenden waren so wirkmächtig, dass auf deutscher Seite der Erste Weltkrieg damit angesungen wurde. Als am 1. August 1914 auf dem Berliner Schlossplatz die allgemeine Mobilmachung verkündet wurde, sangen die dort versammelten kriegsbegeisterten Massen „Nun danket alle Gott“.
Der „Choral von Leuthen“ war über Generationen Hymne und Symbol der angeblichen nationalen Erneuerung Deutschlands. Ein Film dieses Titels kam 1933 wenige Tage nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten in die Kinos. So wurde die hoffnungsvoll-zuversichtliche Bitte in der zweiten Strophe von „Nun danket alle Gott“ militarisiert und pervertiert. Da heißt es im Lied, dass Gott „ein immer fröhlich Herz und edlen Frieden geben“ wolle. Er möge „uns in seiner Gnad erhalten fort und fort / und uns aus aller Not / erlösen hier und dort“. Zum guten Erntedank gehört daher dessen Entmilitarisierung und die Befreiung vom nationalen Pathos. Zum guten Erntedank gehören Demut und Zuversicht. Der Beginn davon war vielleicht 1955, als die letzten deutschen Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion im Lager Friedland ankamen und dort aus Dankbarkeit der alte Choral angestimmt wurde.
Transzendentale Obdachlosigkeit
Die Feier des Erntedankfestes heute hat wieder etwas von der alten Ursprünglichkeit, dem Dank für Nahrung, für Speis und Trank. Aber bei aller Pracht in den Kirchen hat der Tag auch etwas leicht Verlegenes: Mit dem Erntedank verbindet sich ja das Gebet, das Dankgebet, und damit tun sich auch viele Menschen, die sich Christen nennen, schwer. Beten Sie? Betest Du? Mit kaum einer anderen Frage kann man Menschen so irritieren. Die Frage ist peinlich, die Antwort ist peinlich; es offenbart sich in dieser sprachlosen Peinlichkeit so etwas wie eine transzendentale Obdachlosigkeit. Beten ist Reden mit Gott, mit einem Wesen also, das nicht antwortet. Das ist naiv, das ist seltsam, das ist suspekt, das gilt als ein Überbleibsel der alten und unaufgeklärten Zeiten in einer säkularisierten Welt. An Erntedank, wie gesagt, drückt man da schon mal ein ungläubiges Auge zu – weil die Erntedank-Arrangements an den Altären so schön sind.
Beten und Danken als therapeutisches Selbstgespräch
Beten, sagen die Religionswissenschaftler, sei schlechthin selbstverständlich. Ist das noch so in Westeuropa? In allen heiligen Büchern sämtlicher Religionen ist das Beten einfach da und immer da gewesen. Beten war und ist also ein Menschheitsbrauch. Geht er zu Ende, oder verändert er sich? Ist das Kreuz, das der Fußballer vor dem Elfmeter schlägt, ein letzter Rest des Brauchtums und das Händefalten in einer Notlage auch? Beten heißt: eine Sprache und eine Geste finden für Glück, Unglück und Wünsche. Das kann auch ein Sinnieren darüber sein, wem und wofür zu danken ist an Erntedank. In einer Zeit der äußeren Unsicherheit wächst die Sehnsucht nach innerem Frieden, nach sozialer Sicherheit, nach einem guten Miteinander in einer fragmentierten Gesellschaft, also nach der Kraft, die in der Hoffnung steckt.
Wer fragt, klagt, bittet, wer aufbegehrt – der hat schon angefangen, etwas zu unternehmen gegen das, was ihn plagt, irritiert und ängstigt. Wer so ein Reden nicht mit dem religiösen Wort „Gebet“ benennen will, der nenne es ein therapeutisches Selbstgespräch. Und wenn das dabei hilft, dem Gefühl der Sinnlosigkeit standzuhalten und der Hoffnung Raum zu geben – dann ist das überhaupt nichts Frömmlerisches. Dann ist das ein gutes und wichtiges Denken und Danken am Erntedanktag.