Warum man das Aufatmen, das Diskutieren und Streiten wieder lernen muss. Es geht um die Gesundheit des gesellschaftlichen Lebens.

Von Heribert Prantl

Diese Kolumne handelt vom Aufatmen. Sie handelt vom Aufatmen nach fast drei Jahren im unerklärten Ausnahmezustand. Mit dem Ende der Corona-Maskenpflicht im Nah- und im Fernverkehr ist nach dem irrwitzig langen Ausnahmezustand ein Aufatmenzustand erreicht. Die Gesichtsmaske war das Symbol des Ausnahmezustands; Corona nahm den Infizierten die Luft. Aber auch der Schutz vor dem Virus beeinträchtigte das Atemholen. Der kollektive Ausdruck dafür war die Atemmaske, ein Stück Stoff, welches das Atmen mühsam macht, das Reden erschwert, die Mimik verdeckt und die Verständigung behindert. Der Mundschutz war textile Infektionsverhinderung, sein Subtext war Kommunikationsbehinderung. Die Maske stand nicht nur für mitmenschliche Verantwortung, eine Ansteckung möglichst zu verhindern. Sie stand auch für eine nicht gelingende Kommunikation in der alltäglichen Begegnung, sie stand für eine nicht gelingende Diskussion in der Gesellschaft, in der Politik und zwischen den Wissenschaften.

Angstbesetztes Gegeneinander

Corona war und ist ansteckend. Die Angst vor Corona war es auch. Nicht nur Corona, auch die Angst vor Corona und die Reaktionen auf Corona entwickelten immer neue Varianten. Der beim Robert-Koch-Institut festgestellte und veröffentlichte Inzidenzwert löste wie auf Knopfdruck massive Freiheitsbeschränkungen aus. Und so erlebten wir drei Jahre lang ein Großexperiment: Wie eine Gesellschaft funktioniert, wenn sie nicht mehr funktioniert. Es war gespenstisch. Die Bilder von den leeren Straßen und Geschäften waren es auch. Jedenfalls in der ersten Phase der Pandemie fanden fast alle den virologisch-politisch-publizistischen Rigorismus gut; und wer ihn nicht gut fand, sagte es nur im kleinsten Kreis. Das Virus hatte auch die Auseinandersetzung darüber infiziert. Es entwickelte sich ein inquisitorisches Klima, mit dem auch ein Widerspruch gegen nur einzelne Anti-Corona-Maßnahmen oder gegen deren Ausmaß schon im Ansatz diskreditiert wurde. Es entstand ein angstbesetztes Gegeneinander – eine Stimmung, in der sich Freiheit und Leben ungut gegenüberstanden und die amtlich verordnete Aussetzung von Menschen- und Bürgerrechten als Preis für die Rettung von Menschenleben galt.

Die Statistiken sind ausgewertet, das Virus ist erforscht, das Wissen über Covid ist ungeheuer gewachsen seit den ersten Wochen der Pandemie. Es ist unseriös, mit dem Wissen von heute die Maßnahmen von damals ethisch zu bewerten, die vom Standpunkt eines viel geringeren Wissens aus verhängt wurden. Man muss sich aber für die Zukunft wappnen. Dem dient die rechtliche Bewertung und die wertende Nachbetrachtung der Anti-Corona-Maßnahmen, weil die Abwägungsprobleme, die die Corona-Zeit geprägt haben, sich beim Versuch, die Klimakatastrophe zu bewältigen, wiederholen werden.

Überwindung der Kommunikationsblockaden

Die Atemmaske zu tragen, war in der Corona-Krise zur Routine geworden; aber nicht unbedingt zur geliebten. Je länger man sie tragen musste, desto größer war der Wunsch nach einem Aufatmen, nach Überwindung der Kommunikationsblockaden. Die Sehnsucht nach dem Aufatmen war und ist gewaltig groß. „I can’t breathe“, skandierten die Menschen, die nach der Tötung des Afroamerikaners George Floyd durch einen weißen Polizisten Ende Mai 2020 in Minneapolis auf die Straßen strömten. Der US-Polizist hatte dem Mann die Atemwege abgedrückt, bis er starb. „Ich kann nicht atmen!“ Dieser, sein mehrmaliger stöhnend-verzweifelter Ausruf im Sterben hat viele Menschen berührt – weil sie selber das Gefühl hatten, manchmal keine Luft mehr zu kriegen unter der Glocke von Gewalt, Angst und Corona. Die Gesellschaft braucht den Atem, und nach der Pandemie mehr als Gesundheit. Sie braucht Heilung – auch von den Verletzungen, die die Anti-Corona-Maßnahmen angerichtet haben.

Viele Aberwitzigkeiten sind schon wieder fast vergessen: Ab dem 22. März 2020 war es untersagt, sich mit mehr als zwei Personen in der Öffentlichkeit zu treffen; das galt auch für Kinder. Die Corona-Politik, so formulierte es vor Kurzem der Psychologieprofessor Peter M. Wiedemann, ein Experte für Risikokommunikation, orientierte sich stets am schlimmsten anzunehmenden Fall: „Das Ausleuchten der dunklen Zukunft mittels geeigneter Computermodelle rechtfertigte fast jede Maßnahme zum Eindämmen der Pandemie.“ Der Umstand, dass die Pandemiemodelle Konjunktivkonstruktionen sind, sei, so Wiedemann, schnell aus den Augen geraten.

Wie weit geht die Generaldisziplinierungsgewalt des Staates?

Vielleicht können die Fragen, die in den Maskenpflichtjahren oft als querulatorische Fragen abgetan wurde, jetzt nicht nur gestellt, sondern auch beantwortet werden: Waren die Ausgangssperren wirklich geeignet, einen erkennbaren Beitrag zur Pandemiebekämpfung zu leisten? Warum war der Aufenthalt im Freien vor 22 Uhr ungefährlicher als danach? Und warum wurden die Menschen in warmen Sommernächsten in die engen Wohnungen gezwungen? Durfte man ein ganzes Land einsperren, um zu verhindern, dass nachts ein paar Hundert Jugendliche im Park feiern? Und wie weit geht eigentlich die Generaldisziplinierungsgewalt des Staates? Müssen die Menschen immer wieder mit neuen Ausgangssperren und neuen Kontaktsperren rechnen, die von ängstlichen Parlamenten wenig kontrolliert werden und von einer womöglich künftig kritischeren Öffentlichkeit nicht hinterfragt werden können, weil praktisch jedes Grundrecht davon abhängt, dass man das Haus verlassen kann? Werden die Perioden des Aufatmens also nur kurze Perioden sein?

Lustlose Verhältnismäßigkeitsprüfungen

Die Verhältnismäßigkeit von Grundrechtseingriffen setzt Differenzierung, also die Prüfung von Geeignetheit, Erforderlichkeit und Zumutbarkeit voraus. Warum wurde diese Verhältnismäßigkeitsprüfung von der Regierungspolitik und den Behörden, bis hinauf zum Bundesverfassungsgericht, so ungemein „lustlos“ vorgenommen, wie das der Verfassungsrechtler Christoph Möllers richtig beschrieben hat? Wird bei neuen Epidemien, bei neuen Pandemien, bei neuen Katastrophen wieder die Bewegungsfreiheit eingeschränkt, die Versammlungsfreiheit entzogen? Ein grundsätzliches Verbot der Versammlungsfreiheit, Versammlungen zum Gebet inbegriffen, hatte es vor Corona noch nie gegeben. Ist die Abwägung „Freiheit oder Leben“ in der Corona-Pandemie ein für allemal für das Leben entschieden worden? Und was bedeutet das dann für die Abwehr der Klimakatastrophe? Muss sich die Gesellschaft daran gewöhnen, dass heftige Einschränkungen der Grund- und Bürgerrechte zu den Bewältigungsstrategien einer Krise gehören?

Große Fragen vertragen große Auseinandersetzungen

Eine politische und juristische Aufarbeitung wäre angesagt – und eine gesellschaftliche Selbstvergewisserung darüber, wo die von keiner Seite überschreitbaren Grenzlinien des rechtsstaatlich Möglichen liegen. Der Staat wäre dann vor und in Großkrisen weniger verunsichert und weniger nervös. Gut wäre es auch, wenn die Gesellschaft in der Corona-Krise gelernt hätte, dass ein Kritiker von Krisenbekämpfungsmaßnahmen nicht automatisch ein Idiot ist und ein Andersdenkender nicht automatisch ein verschwörungssüchtiger Querdenker.

Das würde der Diskussions- und Streitkultur in diesem Land guttun, auch heute, in der Ukraine-Debatte. Wem mulmig wird beim Export von deutschen Schützen- und Kampfpanzern in die Ukraine, wer auf Friedensverhandlungen setzt – der ist deswegen kein Putinfreund. Er sagt das, was der deutsche Ex-Brigade-General Erich Vad gesagt hat, der der militärpolitische Berater von Bundeskanzlerin Angela Merkel war. Vad hat Zweifel geäußert, wie sie ähnlich auch der US-Generalstabschef Mark Alexander Milley geäußert hat. Vad sagt: „Wir begeben uns auf eine Rutschbahn.“ Es gilt zu lernen, dass große Fragen große Auseinandersetzungen vertragen. Es geht um ein zuhörendes und diskutierendes Miteinander – es geht um das Bewusstein, dass auch der Andere recht haben könnte.


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