In der Flüchtlingspolitik stand Boris Pistorius für Humanität. In welchen Zwängen steckt er nun in seinem neuen Amt? Was den Verteidigungsminister ausmacht.

Von Heribert Prantl

Wir leben in sehr gefährlichen und zugleich sehr merkwürdigen Zeiten. Warum sie sehr gefährlich sind, weiß jeder: Der Krieg in der Ukraine ist bedrohlich nahe. Warum sie sehr merkwürdig sind, zeigt sich bei den Diskussionen über diesen Krieg. Generäle a.D., also Spezialisten für militärische Auseinandersetzungen, warnen vor weiteren Waffenlieferungen an die Ukraine. Und Pazifisten a. D., die Grünen also, fordern immer mehr Waffenlieferungen an die Ukraine.

Die Grünen sind da in Deutschland die treibende Kraft; Zurückhaltung gilt ihnen als „Gewürge“. So nannte das soeben der grüne Abgeordnete Anton Hofreiter in der Talkshow von Markus Lanz. Bundeskanzler Olaf Scholz wird gedrängt, doch „endlich“, wie es dann heißt, der Ukraine deutsche Leopard-Panzer zu liefern. Und der neue Verteidigungsminister Boris Pistorius ringt sich in den ersten Stunden im Amt ein „Jein“ zu dieser Frage ab und steht mit dem Rücken zur waffenfordernden Wand.

Die Bundeswehr werde „kannibalisiert“, warnt ein früherer Generalinspekteur

General a.D. Harald Kujat erklärt in einem Interview, „Waffenlieferungen bedeuten, dass der Krieg sinnlos verlängert wird“. Und er wirbt für einen Verhandlungsfrieden: „Jetzt wäre“, sagt er, „der richtige Zeitpunkt, die abgebrochenen Verhandlungen wieder aufzunehmen.“ Kujat ist nicht irgendwer. Er war General der Luftwaffe, er war Generalinspekteur der Bundeswehr, also der höchstrangige deutsche Soldat und dann bis 2005 Vorsitzender des Nato-Militärausschusses. Die Bundeswehr, so klagt er, würde „entwaffnet, ja geradezu kannibalisiert, um Waffen und technisches Gerät für die Ukraine freizusetzen“.

Tonangebend sind die Generäle in der öffentlichen Diskussion nicht. Im Gegenteil: Sie werden wenig gehört und viel kritisiert. Mir ist beim Nachlesen der zitierten Interviews ein Satz von George Orwell eingefallen, aus dem Nachwort der „Animal Farm“: Wenn Freiheit überhaupt etwas bedeutet, dann bedeutet sie das Recht darauf, den Leuten das zu sagen, was sie nicht hören wollen. Aber wer sind „die Leute“, habe ich mich dann gefragt? Bei Meinungsumfragen in der Bevölkerung stehen sich ja die zwei Positionen – Waffenlieferungen Ja und Waffenlieferungen Nein – etwa gleich stark gegenüber.

Das jedenfalls ist die Situation am Beginn der Amtszeit des neuen Verteidigungsministers Boris Pistorius. Pistorius steht zwischen den Pazifisten a.D. und den Bellizisten a.D. Gegen wen stellt er sich?

Die Frage der Humanität

Als Pistorius vor zehn Jahren Innenminister von Niedersachsen wurde, hatte er auch nicht viel Zeit, sich einzuarbeiten. Die Situation war nicht so prekär wie heute, aber immerhin: Er hatte den Vorsitz der Innenministerkonferenz zu übernehmen – und kündigte an, umgehend etwas zu ändern: Humanität solle in die Flüchtlingspolitik einziehen. Er wollte, wie er es schon zuvor als Oberbürgermeister von Osnabrück getan hatte, eine offensive Einbürgerungs- und Integrationspolitik einleiten.

Als OB hatte er an 9400 Osnabrücker, die keinen deutschen Pass hatten, aber die Kriterien erfüllten, Briefe geschrieben: „Lassen Sie sich einbürgern, damit unsere Gesellschaft noch vielfältiger wird.“ Da hatte er sich an den gebürtigen Osnabrücker Erich-Maria Remarque und an dessen Motto angelehnt: „Mein Thema ist der Mensch dieses Jahrhunderts, die Frage der Humanität.“

Mit Stolz überreichte er alle zwei Jahre im historischen Friedenssaal den Remarque-Friedenspreis (dessen Jury ich seit damals angehöre). Pistorius war es, der für die SPD in den Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung ein Einwanderungsrecht hineinverhandelt hat – wie es seine Partei eigentlich schon vor dreißig Jahren wollte, als Preis für ihre Zustimmung zur Änderung des Asylgrundrechts. Damals war daraus nichts geworden.

Ein Mann, der in historischen Dimensionen denken kann

Pistorius ist ein Mann, der in historischen Dimensionen denken kann. In einem SZ-Gespräch über die im Jahr 1938 gescheiterte Flüchtlingskonferenz von Évian, bei der es, auf Einladung von US-Präsident Franklin D. Roosevelt, um die Rettung der von Nazi-Deutschland verfolgten Juden ging, meinte der damalige Innenminister: „Da wird heute wieder geredet wie damals, vom sozialen Frieden, der durch die Aufnahme der Flüchtlinge bedroht sei; da wird wieder geredet von der innenpolitischen Balance, die durch die Flüchtlinge gefährdet werde; da wird vom Missbrauch des Asylrechts geredet. Genauso war es damals. Nach und an diesem Gerede sind damals so viele Menschen gestorben.

Die Konferenz von Évian hätte vielen Menschen das Leben retten können. Daraus gilt es zu lernen. Der Versuch, den europäischen Kontinent abzuschotten, bedeutet: Wir haben nichts gelernt.“ Das war für einen deutschen Innenminister eine sehr bemerkenswerte Aussage – eine, die nicht auf der deutschen und europäischen Generallinie lag und liegt. Er war einer der wenigen deutschen Regierungspolitiker, der sich auf der griechischen Insel Lesbos die katastrophalen Zustände bei der Unterbringung der Flüchtlinge selbst angeschaut hat.

Mit Wortwitz und Selbstbewusstsein

Phänotypisch ist der 62-jährige Jurist, der in Münster und im französischen Angers (an der „Katholischen Universität des Westens“ in der Partnerstadt von Osnabrück) studiert hat, ein gestandener, massiver Mann, einer von beeindruckender Leutseligkeit und Bodenständigkeit, mit Wortwitz und Selbstbewusstsein. Er war im Osnabrücker Arbeiterviertel Schinkel zu Hause, dort klebte er schon als Bub Plakate für seine Mutter, die SPD-Abgeordnete im niedersächsischen Landtag war. Er spielte in der B-Jugend für den „Schinkel 04“ Fußball; man nannte ihn dort, seiner ungestüm-draufgängerischen Spielweise wegen, „Kamikaze“.

Die äußere Attitüde hat er als Politiker behalten, in der Sache hält er resolut-abwägende Balance. Er hat am Gymnasium Russisch gelernt – und weil er mit den „Falken“, also der SPD-Jugend, in der Sowjetunion war, hat seinerzeit der Militärische Abschirmdienst, also der deutsche Militärgeheimdienst, versucht, ihn anzuwerben. Er habe, erzählte er einmal in seiner Innenministerzeit, „entrüstet abgelehnt“.

Pistorius war in seinen bisherigen politischen Ämtern ein entschlossen-souveräner Mann; er war kein Kamikaze, wie es sein Spitzname in seiner Fußballerzeit suggerieren könnte, war aber mutig im Rahmen des Möglichen. Wie wird das Mögliche für ihn als Verteidigungsminister ausschauen?

Wer ein Vorbild ist für wen und warum

Ein paar Tage vor seiner Ernennung zum Verteidigungsminister ist ein sehr ungewöhnlicher, ein im guten Sinn radikaler alter Herr gestorben – Heinrich Hannover, ein Vorbild an Geradlinigkeit und ein Jurist wie Boris Pistorius. Er war 97 Jahre alt, also 35 Jahre älter als Pistorius, war aus dem Zweiten Weltkrieg als Pazifist und Antimilitarist zurückgekommen – und ist das bis zu seinem Lebensende geblieben.

Er war ein Mann, wie es nicht viele gibt: geradlinig und konsequent, kämpferisch als Rechtsanwalt. Er wurde in den späten fünfziger und den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts als akkurater Verteidiger der Demonstranten gegen die deutsche Wiederbewaffnung bekannt, er vertrat dann die Demonstranten gegen die Notstandsgesetze und gegen die Nachrüstung vor den Strafgerichten.

Hannover war schon ein friedensbewegter Mann, als es die Friedensbewegung noch gar nicht gab und die Grünen auch nicht, die diese Bewegung dann aufnahmen und später wieder verstießen. Als Rechtsanwalt war er immer auf der Seite schutzbedürftiger Minderheiten, er hat für die Meinungsfreiheit, die Demonstrationsfreiheit und die Gewissensfreiheit gefochten. Sätze wie „Staatsfeinde brauchen keine Verteidiger“, die in der politischen Diskussion der sechziger und siebziger Jahre üblich waren, forderten Hannover zu sorgfältiger juristischer Arbeit heraus. Mit Zähigkeit spürte er den Untaten der NS-Richter nach.

„Die Rübe muss runter, der Gauleiter erwartet es“: Das Verständnis der Nachkriegsjustiz mit Nazi-Richtern, die so geredet hatten – er akzeptierte es nicht, er arbeitete mit juristischen Mitteln dagegen. Seine Plädoyers waren aufrüttelnde Aufwachgeschichten für die Justiz. Und für die Kinder schrieb er liebevolle Einschlafgeschichten.

Heinrich Hannover war nicht nur Anwalt und Strafverteidiger, sondern auch Kinderbuchautor von hohen Graden. Juristen, die sich nicht Anpassungszwängen fügen wollen, haben in ihm ein Vorbild.


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