Wofür lebe ich? Warum leide ich? Wie halte ich dem Tod stand? Was ist Liebe? Wie finde ich Vergebung? Was darf ich hoffen? Solche Fragen gehören in die Kategorie des Mysteriums.

Von Heribert Prantl

Jeder weiß, was eine Geburt ist. Was es mit der Auferstehung auf sich hat, weiß keiner so recht. Den Erfolg von Weihnachten hat daher Ostern, das Fest der Auferstehung, das wir in ein paar Tagen feiern, nie gehabt. Auferstehung bewegt sich außerhalb des Erfahrungshorizonts. Es ist das wunderlichste aller Wunder. Es ist ein geheimnisvolles religiöses Versprechen, das im Leben beginnt und auch im Sterben gilt: die Überwindung des Todes.

Aber schon der Tod ist für jeden verhüllt und verborgen. Dereinst hat sich die ganze Lebensführung der Menschen an einem Weiterleben nach dem Tod orientiert. Der Himmel und das ewige Leben: Das war ein gewaltiges, ein unermessliches Versprechen, das große Investitionen lohnte. Das ewige Leben barg auch die Hoffnung auf postmortale Gerechtigkeit angesichts dessen, dass es auf Erden den Guten oft schlecht und den Schlechten gut geht. Auferstehung: Das war die Erwartung, dass das Leiden doch Sinn hat; denn dieses Leiden war ja zugleich der läuternde Eingang in die Ewigkeit. Dieser überirdische Trost ist verwelkt.

Sind nach Jesu Tod die Gesetze von Raum und Zeit außer Kraft?

Ostern ist das Fest der Auferstehung vom Tod: Jesus, von seinen Anhängern für den Messias gehalten, wird von den römischen Behörden als politischer Umstürzler hingerichtet. Nach Jesu Tod sollten seine Jünger schweigen und auseinanderlaufen, doch das glatte Gegenteil ist der Fall. Sie reden vom leeren Grab des Messias und dass er auferstanden sei. Nicht sofort, aber bald nach seinem Tod. Sie erzählen davon, dass er ihnen auf wundersame Weise erschienen sei, Einzelnen und auch mehreren auf einmal, er ist gleichzeitig hier und dort. Die Gesetze von Raum und Zeit sind außer Kraft.

Er taucht wie aus dem Nichts leibhaftig auf, aber wenn sie ihn berühren wollen, verbietet er es. Wenn sie ihn festhalten wollen, entzieht er sich. Er spricht sie an, aber sie erkennen ihn nicht sofort. Er sei der Gärtner, meint zunächst der eine. Er sei ein fremder Wanderer, meinen die anderen. Sie sagen, er sei leibhaftig bei ihnen, wenn sie miteinander essen. Sie erklären, ihre Gemeinde sei nun sein Leib. Sie verlieren die Angst vor dem Tod und behaupten, sie würden einst auferstehen wie er. Wenn es sein muss, dann gehen sie selbstbewusst ins Martyrium und lassen sich lieber umbringen, als von ihrem Glauben an ihn zu lassen.

Für Nichtchristen klingt das alles wie ein Drehbuch für einen Science-Fiction-Film. Den Nichtgläubigen sind die Geschichten von der Auferstehung Jesu ein Rätsel. Sie enträtseln es, indem sie es als Einbildung oder Gruppenwahn abhaken oder es dem überholten magischen Weltbild zuschreiben. Sie entdecken das Wunder allenfalls in den großartigen Kunstwerken des Weltkulturerbes, für die biblische Erzählungen die Vorlage und der Glaube an sie die Leidenschaft zusteuerten.

Ein Rätsel löst man. Ein Mysterium ist unlösbar

Gläubigen Menschen ist die Auferstehung kein Rätsel, sondern ein Mysterium. Ein Rätsel löst man. Ein Mysterium ist unlösbar. Es offenbart sich einem, und dann verhüllt es sich wieder. Mit einem Rätsel ist man fertig, wenn man es gelöst hat. Mit einem Mysterium ist man nie fertig. Die großen Fragen des Lebens gehören zur Kategorie des Mysteriums: Wofür lebe ich? Warum leide ich? Wie halte ich dem Tod stand? Was ist Liebe? Wo finde ich Vergebung? Was darf ich hoffen? Es sind dies keine Fragen, die ein für alle Mal gelöst und beantwortet werden könnten. Sie begleiten einen aber bis in den Tod. Und vielleicht sind sie eben deshalb die wichtigsten Fragen. Sie müssen gestellt werden, obwohl und weil sie nicht gelöst werden. Sie wollen gelebt werden.

Mysterien brauchen Aufführung – in Spielen, in Ritualen, in Kulten, in Festen. Das ist in allen Religionen so. Die Aufführungen des Mysteriums vom Leiden des Christus und seiner Auferstehung machen die Gläubigen zu Mitspielern, zu Mitakteuren im Drama. Sie fasten, sie gehen die Stationen des Kreuzweges ab, sie tragen Palmzweige nach Hause, sie versammeln sich in der Osternacht und zelebrieren die Wiederkehr des Lebens in Gesängen und Riten. So vergegenwärtigen sie die Erinnerung. So machen sie die Geschichten zu ihrer Geschichte, das Leid zu ihrem Leid, den Tod zu ihrem Tod dermal einst und antizipieren in der Auferstehung ihre Auferstehung.

In ihrem Buch „Vom Aufstehen“ erinnert sich die Schriftstellerin Helga Schubert an ihr Ostern. Sie berichtet, wie sie, seit ihrer Kindheit, in der Woche vor Ostern die biblische Geschichte vom Leiden Christi mitvollzieht, wie sie als Sechsjährige von der Wut auf den Verräter gepackt war und um seinen Tod trauerte. „Heute weiß ich“, schreibt sie, „in dieser Woche vor Ostersonntag passiert alles, was ich inzwischen vom Leben verstanden habe: Wie schnell sich das Schicksal für einen Menschen ändert, dass man verraten werden kann. Dass es immer unvermuteten Beistand gibt und einen Ausweg. An diese Hoffnung will ich erinnert werden. Einmal im Jahr.“

Der Geburt folgt das Leben – und was folgt dem Tod?

Die Erinnerung ist blass geworden. Der große Teil der Menschen hat sich entfremdet von solchen Aufführungen, es sei denn, sie taugen zum folkloristischen Spektakel, an dem man als Zuschauer teilnimmt. Ostern ist von der Geschichte des Leidens, auf die es folgt, entkoppelt. Der tollkühne Protest gegen den Tod und der wundersame Glaube an seine Abschaffung sind verwelkt. Das Leben muss vor dem Tod stattfinden. Die Zeitspanne, die die Menschen hierzulande dazu zur Verfügung haben, ist in den letzten Jahrzehnten mit gestiegener Lebenserwartung enorm gewachsen, die Ansprüche, was in die acht oder gar neun Jahrzehnte alles hineinpassen soll, auch.

Am Grab ist es ein Trost, wenn der Verstorbene ein langes und erfülltes Leben hatte. Mehr braucht man vielleicht gar nicht, um akzeptieren zu können, dass das Leben ein Ende hat. Aber das erfüllte Leben ist nicht jedem gegeben. Und so bleibt da, wo der Glaube an die Auferstehung fehlt, eine melancholische Leere, ein Moment des Bedauerns über den Verlust der tollkühnen Hoffnung; manchmal ist es sogar mächtige Bitternis: Der Geburt folgt das Leben; dem Tod folgt – nichts?

Wenn der überirdische Trost, der Glaube an ein ewiges Leben, verblichen ist: Womit füllt man die Leere? Was bleibt, ist dann die Erinnerung; was bleibt, ist die Dankbarkeit. Es ist dies der Zipfel Transzendenz, der es vermag, Raum und Zeit und Tod zu überwinden. Wahre Erinnerung ist mehr als ein „Denken an“. Wahre Erinnerung vergegenwärtigt den Menschen, der war und nicht mehr ist. Sie macht ihn anwesend, sein Gesicht, seine Stimme, seine Gegenwart; sie setzt ihn an den Tisch, sie lebt mit den Momenten, die man mit ihm erlebt hat. Auch das ist ein Leben nach dem Tod.


Newsletter-Teaser

Spread the word. Share this post!