Steinmeiers Rede zur Lage der Nation hat einige Stärken, aber auch Schwächen. Brauchen wir in bitterer Zeit nicht auch eine Utopie? Zum Beispiel vom Frieden?

Von Heribert Prantl

Alle, fast alle waren zufrieden. Die anwesenden Generäle waren zufrieden, der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz war zufrieden, die Bundespräsidenten-Vorgänger, also Joachim Gauck und Christian Wulff, waren zufrieden. Bundeskanzler Olaf Scholz und seine Minister waren schon vorab so zufrieden, dass sie zur Rede von Frank-Walter Steinmeier gleich gar nicht mehr persönlich erschienen. Die jungen Leute von der Deutschlandstiftung Integration, die der Bundespräsident zu seiner Rede eingeladen hatte, waren auch zufrieden. Und der Redner selbst war auch sehr zufrieden mit sich und seiner Rede über den Gegenwind der Zeiten.

Kein Platz für alte Träume?

Im Saal des Schlosses Bellevue freilich war kein Gegenwind gegen den Bundespräsidenten und seine Rede zur Lage der Nation zu spüren, als er am vergangenen Freitag über die „zutiefst unsichere Zeit“ sprach, als er „zuallererst“ für „eine starke und gut ausgestattete Bundeswehr“ warb; als er die Sanktionen verteidigte, den „Abbruch von Kontakten“ und die „Waffenlieferungen in einen tobenden Krieg“; als er „alte Träume“ begrub, für die kein Platz mehr sei; er meinte „Gorbatschows Traum vom gemeinsamen Haus Europa“. Dieser Traum freilich war einst nicht nur Gorbatschows Traum, sondern der Traum von so vielen, auch von Helmut Kohl, von Richard von Weizsäcker, von Willy Brandt.

Ich habe mich an dieser Stelle in Steinmeiers Rede gefragt, ob man sich diesen Traum, auch wenn er jetzt ein sehr ferner Traum ist, von einem Putin nehmen lassen darf. Brauchen wir in bitterer Zeit nicht auch Visionen, nicht auch eine Utopie, brauchen wir nicht ein, wenn auch ganz fernes Ziel? Utopie besteht in der konkreten Verneinung der als unerträglich empfundenen gegenwärtigen Verhältnisse – mit der Perspektive und der Entschlossenheit, das Gegebene zum Besseren zu wenden.

Nukleare Eskalation verhindern

Aber als ich noch darüber sinnierte, war Steinmeier schon bei der Feststellung: „Unser Land ist nicht im Krieg. Und wir wollen auch nicht, dass sich das ändert.“ Und dann folgte der Satz: „Eine Ausweitung des Kriegs, gar eine nukleare Eskalation, muss verhindert werden.“ Das war in der bis dahin sehr prononcierten, appellativen und emotionalen Rede des Bundespräsidenten ein sehr passiver und diffuser Satz. „Muss verhindert werden“ – vom wem? Wer soll das verhindern? Wie und womit? Es wäre besser und klarer gewesen, der Präsident hätte das, bei aller Beschränktheit seiner Möglichkeiten als Bundespräsident, so formuliert: „Ich werde mich mit aller Kraft dafür einsetzen, die nukleare Eskalation zu verhindern.“ Als ich noch auf einen solchen oder einen so ähnlichen Satz wartete, kam Steinmeier auf den Frieden zu sprechen: „Ich weiß, viele Menschen in unserem Land sehnen sich nach Frieden.“ Auch das war von seltsamer Zurückhaltung. Tut Steinmeier selbst das nicht, sehnt er sich nicht nach Frieden? Ist Frieden in kriegerischen Zeiten ein F-Wort?

Und er fuhr fort: „Einige glauben, es fehle an ernsthaften Bemühungen unsererseits, an Bereitschaft zu verhandeln. Ich kann Ihnen versichern: Niemandem, der bei Sinnen ist, fehlt der Wille. Aber die Wahrheit ist: Im Angesicht des Bösen reicht guter Wille nicht aus.“ Über die „ernsthaften Bemühungen“ selbst sagte er dann gar nichts mehr. Sind sie nicht notwendig, nicht zeitgemäß oder sind sie gar verboten? Statt davon zu reden, folgte Steinmeiers sehr treffende Beschreibung von Putins Krieg als „brutal“, „niederträchtig“ und „menschenverachtend“. Aber ich hatte, bei aller Zustimmung zu dieser Beschreibung, das Gefühl, dass auch so richtige und wichtige Worte sich durch ihren ritualisierten Gebrauch abnutzen können.

Vom Reden gegen Wände

Steinmeier warb für einen „gerechten Frieden“. Ganz richtig. Er muss das Ziel sein. Aber wie kann er aussehen? Und ich fragte und frage mich, ob man die Anforderungen an den gerechten Frieden, ob man die Anforderungen schon an den Beginn von Verhandlungen darüber so hoch hängen darf, dass man das Kriegführen gar nicht mehr aufhören kann. Die evangelische Ratsvorsitzende Annette Kurschus sagt in ihrer Predigt zum Reformationstag, „dass die Alternative zum gerechten Frieden doch nicht ewiger Krieg sein darf“. Und sie kommentiert in ihrer Predigt auch sehr richtig: „Niemals darf Krieg die Politik ersetzen.“ Das ist deutlicher und mutiger, als es die Rede von Steinmeier war.

Im Anfang war das Wort, nicht der Streitwagen und nicht die Panzerhaubitze. Das heißt: Man muss auch dann das Gespräch suchen, man muss auch dann verhandeln, wenn man das Gefühl hat, gegen Wände zu reden. Selbst das Reden gegen Wände kann ein Gespräch öffnen. Um des Endes des Tötens willen muss man es versuchen. „Was der Epochenbruch verändert, sind nicht die Werte, für die wir stehen“ – so hat Steinmeier sehr richtig gesagt. Zu diesen Werten gehört auch: Frieden suchen mit aller Kraft. So haben es uns die Mütter und Väter des Grundgesetzes, die Überlebenden des Zweiten Weltkriegs, als Friedensgebot in unsere Verfassung geschrieben – als Gebot der Friedensstaatlichkeit. Dieses Friedensgebot steht neben dem Sozialstaatsgebot und dem Rechtsstaatsgebot.

Frieden suchen mit aller Kraft

Sechzehn Mal hat Steinmeier in seiner Rede von Europa gesprochen, auch von der Stärkung Europas. Das war und ist wichtig, und die Putin’sche Aggression muss da der Antrieb sein. Für mich ist Europa der Resonanzraum für meine Hoffnung auf Frieden. Man mag das für eine Vision, gar für eine Utopie halten. Aber: Ohne Visionen gäbe es das heutige Europa gar nicht; und ohne neue Zukunftsbilder wird die Europäische Union keine Zukunft haben. Die Europäische Union hat die alten Feinde versöhnt, die alten Erbfeindschaften wurden überwunden. Die Europäische Union muss künftig die Feinde von heute entfeinden.

Was ist das Verbindende?

Steinmeier warb um „unser Engagement für das gemeinsame Ganze“. Es sei keine Zumutung, „wenn wir die Menschen fragen, was sie für den Zusammenhalt zu tun bereit sind“. Deshalb wiederholte er auch seine Idee von einer sozialen Pflichtzeit. Es komme, sagte er, „nicht darauf an, dass alle dasselbe tun – aber dass wir eines gemeinsam im Sinn haben: alles zu stärken, was uns verbindet“. Es verbindet uns, dachte ich mir da, doch auch die Sehnsucht nach Frieden. Aber bei dem Satz „alles stärken, was uns verbindet“ begannen die Leute schon mit dem großen Schlussapplaus und applaudierten im Stehen weiter, und die Vorstellungen davon, was verbindet, mögen da sehr verschieden gewesen sein. Es war der Beifall für eine gute, aber keine mutige Rede. Sie war emotionaler, als man es sonst von Steinmeier gewohnt ist. Und sie war bequem für den politischen Betrieb.

Und in den Beifall hinein sagte Steinmeier dann zufrieden: „Das ist die Aufgabe. Tun wir’s.“ Was denn nun genau?


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