Über den Wert von Glaube, Kult und Mythos: Gedanken zum Reformationstag, der ein Feiertag ist in der halben Republik.

Von Heribert Prant

Was ist evangelisch? Vielen fällt dazu nur ein, dass es bei den Protestanten etwas lockerer zugeht als bei den Katholiken. Diese Lockerheit begann aber gar nicht locker: Sie begann mit wuchtigen Hammerschlägen, sie begann mit Luthers 95 Thesen, die er im Jahr 1517 an die Tür der Schlosskirche in Wittenberg genagelt haben soll. Luther bestritt darin, dass man sich von seinen Sündenstrafen freikaufen könne; er attackierte den Ablasshandel der katholischen Kirche, mit dem der Papst seinerzeit den Bau des Petersdoms finanzieren wollte. Das war der Auslöser der reformatorischen Bewegung.

In ein paar Tagen ist Reformationstag, ein Feiertag in der halben Bundesrepublik. Dieser Tag erinnert an den Thesenanschlag vor 508 Jahren. Luther war ein Protestant, der gegen eine Kirche protestierte, die sich der Ware-Geld-Beziehung angepasst hatte und als Geschäftsmodell mit der Seligkeit handelte. Er wollte keine punktuellen Reformen, sondern eine Rückbesinnung auf die biblischen Grundlagen des Glaubens. Dieses Anliegen hat er leidenschaftlich verfolgt.

Was ist der Unterschied zwischen Reformation und Reform?

In den Predigten am 31. Oktober wird eine Formel aus der Reformation zitiert werden: „Ecclesia semper reformanda“. Die Kirche müsse beständig reformiert werden, Erneuerung sei also immer. Aber womit fängt Reformation heute an? Die Reformvorhaben in der evangelischen wie in der katholischen Kirche setzen seit geraumer Zeit beim Mangel an. Sie setzen an beim Mitglieder- und Kirchensteuermangel. Sie fingen an mit der Angst vor dem Bedeutungsverlust. Sie orientierten sich an dem Ziel, die Mängel zu beheben: den Mangel an Geld, den Mangel an Mitgliedern, den Mangel an Religiosität, den Mangel an christlichem Wissen. Vielleicht war, vielleicht ist das der graduelle Unterschied zwischen Reform und Reformation: Reform setzt beim Mangel an und bei der Angst. Reformation hat ihren Anfang in der Gewissheit und in der Leidenschaft.

Das lang bewährte und altvertraute Gemeindeleben findet bei immer weniger Menschen Zuspruch. Doch gerade diese wenigen sind die altgedienten Ehrenamtlichen, denen die Pfarrgemeinde Heimat und Familie ist; sie sind es, die die Posten in Kirchenvorständen besetzen und Veränderungen eher mit Angst betrachten. In der jüngeren kirchlichen Generation dagegen setzt zunehmend die Erkenntnis ein, dass Säkularisierung, Traditionsabbruch und Mitgliederschwund nicht aufhaltbar, aber gestaltbar sind. In der jüngeren kirchlichen Generation gibt es immer weniger Lust darauf, den Abschiedsschmerz zu pflegen, sondern viel Lust darauf, Kirche neu zu erfinden – weg von der flächendeckenden volkskirchlichen Versorgung und der traditionellen Gemeinde vor Ort mit ihren Gruppen und Kreisen.

Was Kirche eigentlich ausmacht

Das ist eine gute Nachricht für die Kirche in der Kirchendämmerung: Die Angst, es könnte der Tod der Kirche sein, wenn sie Formate aufgibt, die bisher als Teil ihrer Kernidentität galten, weicht nach und nach einem – mal verdrossenen, mal unverdrossenen – Realitätssinn. Die Rasanz, mit der Personal und Finanzen wegbrechen, auch die Auseinandersetzung mit Missbrauch und Gewalt in den eigenen Reihen, lösen nicht nur Furcht und Zittern aus. Sie befördern auch ein ernsthaftes Nachdenken darüber, was Kirche eigentlich ausmacht.

Reformation fängt damit an, dass Menschen für etwas brennen, dass der Glaube bei ihnen zündet. „Im Anfang war das Wort.“ So beginnt Weihnachten beim Evangelisten Johannes; ein Wort wie ein Hammerschlag. Worte wie Hammerschläge waren auch die Thesen aus Wittenberg, die die Welt veränderten. Wenn das Wort nicht mehr zündet, erlischt die Kirche. Sie lebt von und für die Kommunikation des Evangeliums.

Im Anfang war das Wort; nicht die Kirchensteuer. Man kann sich darüber streiten, ob es gut ist, wenn der Staat als weltlicher Arm der Kirche auftritt. Wohl nicht. Es ist dies ein besonders deutliches Exempel dafür, dass es mit der Trennung von Kirche und Staat hierzulande nicht so weit her ist. Kaum irgendwo auf der Welt sind die Beziehungen zwischen Kirche und Staat so verflochten und verwickelt wie in Deutschland: Mitgliedsbeiträge als vom Staat eingezogene Steuern, das ist das bekannteste Beispiel. Ist es wirklich im Interesse der Kirchen, sich dieses Mischsystem im 21. Jahrhundert zu erhalten?

Die Kirchen wissen, dass die Kirchensteuer langfristig keine dominante Einnahmequelle mehr sein wird. Trotzdem gäbe es einen Systemcrash, wenn diese Einnahmequelle von jetzt auf gleich abgeschaltet würde. Angesichts der sozialen Aufgaben und Dienstleistungen, die die Kirchen erfüllen und erfüllen sollen, wäre das auch nicht wünschenswert. Man möchte den sozialen Breakdown nicht erleben, den eine AfD-Regierung produzieren würde, wenn sie die kirchlichen Wohlfahrtswerke finanziell erwürgt.

Woran erkennt man eine evangelische Kirche? An dem, was sie nicht hat!

Reformation hieß damals, vor fünfhundert Jahren: Geht raus! Feiert Gott nicht in sakralen Gemäuern, sondern im Alltag der Welt. Das ganze Leben sei ein Gottesdienst und jeder Getaufte ein Priester. Die Priester zogen daher das Priestergewand aus. Die Bilderstürmer stürmten die Kirchen und zerschlugen das Heilige. Man könnte die Reformation auch als frühe Austrittsbewegung beschreiben. Woran erkennt man eine evangelische Kirche? Vor allem an dem, was sie nicht hat: Bilder, Beichtstuhl, Tabernakel, Heiligenfiguren. Und man erkennt sie leider auch daran, dass sie meistens verschlossen ist.

Wozu auch bräuchte man Zutritt? Seinen Gott kann man ja überall finden, wenn man nur recht von Herzen glaubt. Äußere Rituale wurden durch innere Umkehr ersetzt. Diese Alltäglichkeit machte evangelische Kirchen und ihre Pfarrer nahbar, statt einschüchternd und erhaben. Bisweilen zu nahbar, wie die Untersuchungen über sexualisierte Gewalt zeigen, die gerade in solcher Nähe ein strukturell begünstigendes Moment sehen. Ein Reformvorhaben besteht darum gegenwärtig darin, „Nähe“ theologisch und praktisch neu zu denken und zu entwickeln.

Weil der Gottesdienst in den Alltag drängt, wurden die modernen Kirchen in den Sechziger-, Siebziger- und Achtzigerjahren des letzten Jahrhunderts so gebaut, dass man alles Mögliche außer Gottesdiensten darin veranstalten kann, von Second-Hand-Märkten bis Geburtstagspartys. Diese Offenheit ist die Stärke protestantischer Kirchen. Aber daraus wuchs auch eine Schwäche. Bisweilen ging das Gespür für das Heilige verloren: dass ein Altar kein Tisch ist, auf dem man, wenn gefeiert wird, ruhig auch mal ein Bierglas abstellen kann. Und dass ein alter Taufstein nicht zur Vogeltränke umfunktioniert werden sollte, wenn er durch einen neuen ersetzt wurde. In den Siebzigerjahren hat man die evangelischen Kirchen als Multifunktionsräume gebaut. Und genau das hat man auch bekommen: Räume, in denen so viel Seele und Wärme steckt wie im Wort „Multifunktionalität“.

Eine Kraft gegen die Destruktion

Ich gestehe, dass ich diese Multifunktionalität nicht so sehr mag. Kein Wunder, dass diese Gemeindezentren heute diejenigen sind, die zuerst entwidmet und veräußert werden. Ich liebe die Kirchen als kleine und große Haltestellen im Alltag. Ich liebe die Kirchen als einen Ort, der den Gläubigen heilig ist, weil hier viele Menschen Heilung gesucht und auch manches Mal gefunden haben; weil unter diesem Dach Worte gesagt und gesungen werden, die trösten; weil hier die Hoffnung auf das Heil der unfriedlichen Welt geteilt wird.

Die religiösen Gesten, Riten, die religiösen Utopien und Erzählungen sind wichtig, sie sind unersetzlich. Es bündeln sich darin, wie Jürgen Habermas – selbst religiös unmusikalisch – nicht müde wird zu betonen, die Kraft gegen den Defätismus der Vernunft und die Destruktion der Welt. „Der Entschluss zum solidarischen Handeln im Anblick von Gefahren, die nur durch kollektive Anstrengungen gebannt werden können, ist nicht nur eine Frage der Einsicht“, weiß Habermas. Für ihn reicht spröde Vernunftmoral nicht aus für das Zusammenleben. Die Kraft der Religion bestehe darin, „ein Bewusstsein für die weltweit verletzte Solidarität, ein Bewusstsein von dem, was fehlt, von dem, was zum Himmel schreit, zu wecken und wachzuhalten“. 


 

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