Eine Laudatio zum 80. Geburtstag auf einen der wenigen Charismatiker in der deutschen Politik.
Von Heribert Prantl
In der Zeit, in der Oskar Lafontaine groß geworden ist, gehörte es sich, dass man in einer Rede mindestens zwei Goethe-Zitate unterbringt, in der Geburtstagsrede drei. Lafontaine hat Geburtstag, er wird kommenden Samstag achtzig Jahre alt. Was könnte da passen, wenn man Lafontaines Leben Revue passieren lässt?
Etwas Feierlich-Heroisches für den Politiker, den man den „Napoleon von der Saar“ nannte? Ein paar Zeilen aus dem Faust-Monolog für den Mann, der als der begabteste politische Enkel Willy Brandts galt? Die Stelle vielleicht, wo Faust darlegt, dass er gescheiter sei „als alle die Laffen, Doktoren, Magister, Schreiber und Pfaffen“. Dem Faust will hier „schier das Herz verbrennen“, weil er sich mit den Dingen nicht abfinden kann, so wie sie sind. Das passt aber nicht so gut zu Lafontaine, ist zu gestelzt. Er ist kein Grübler, sondern ein Genießer, er ist ein Zupacker, er ist ein grandioser Redner, ein impulsiver Mensch. Er stößt Türen auf, er schlägt Fenster zu.
Goethe hat dem Oskar Lafontaine schon vor 250 Jahren, quasi pränatal, ein literarisches Denkmal gesetzt. Man kann das im „Götz von Berlichingen“ nachlesen. Dieser Götz, der sich zum Hauptmann der aufständischen Bauern machen ließ, passt viel besser zu Oskar als der Faust. Zumal das berühmte Götz-Zitat aus dem dritten Aufzug die Stimmung des damaligen Bundesfinanzministers und SPD-Vorsitzenden Lafontaine in Bezug auf Bundeskanzler Schröder im März 1999 ziemlich gut beschreibt: „Er aber, sag’s ihm, er kann mich im Arsche lecken“. Die Szene endet mit dem Vermerk: „Götz schmeißt das Fenster zu.“ Das Fenster zwischen Lafontaine und der SPD ist verschlossen geblieben.
In der Burg Jagsthausen, am Original-Schauplatz, finden alljährlich die Berlichingen-Festspiele statt. Die renovierte Burganlage war der letzte Wohnsitz des Altbundespräsidenten Roman Herzog, in zweiter Ehe verheiratet mit Alexandra Freifrau von Berlichingen. Herzog, der verstorbene Christdemokrat, hat also einige Glaubwürdigkeit, wenn es um die deftige Beschreibung und die treffende Charakterisierung von Lafontaine geht. Er hat einmal, es war im Jahr 2008, festgestellt, es gebe in der deutschen Politik nur noch einen einzigen Politiker, „den ich als Charismatiker bezeichnen würde“. Er meinte Lafontaine; die beiden letzten Charismatiker vor ihm seien Brandt und Strauß gewesen.
Wenn einer einen roten Kopf kriegt
Charisma ist kein Tugendpreis, Charisma setzt sich nicht dem auf den Schoß, der am anständigsten ist. Vielleicht gehört ja auch die Vermessenheit zum Charisma, wie einst bei Franz Josef Strauß. Es stört das Charisma nicht, wenn einer beim Reden einen roten Kopf kriegt. So war es bei Strauß, so ist es bei Lafontaine. Lafontaine bannt sein Publikum, es lässt es lachen, stöhnen, applaudieren. Wer ihn oft reden gehört hat, der weiß: Er kann sich in Nullkommanichts von null auf hundert reden.
Er verteidigt den Sozialstaat, er beschwört die soziale Gerechtigkeit, er attackiert den Finanzkapitalismus, beschwört die Sehnsucht nach Frieden, er redet Sinn und Unsinn. So gewann er einst seine Wählerinnen und Wähler als Chef der SPD, so gewann er sie als Chef der Linken, so gewann er aus dem Stand fast 22 Prozent der Stimmen im Saarland für die Linkspartei. Nach seinem Rückzug fiel die Partei dann dort zurück in die Bedeutungslosigkeit.
Als Lafontaine den SPD-Parteivorsitz hingeworfen und das Amt des Bundesfinanzministers nach kürzester Zeit aufgegeben hatte, galt er jahrelang als der Buhmann der Nation. „Verräter“ war quasi das Synonym für ihn. Wenn es um Lafontaine ging, taten auch ansonsten sachliche Nachrichten so, als seien sie Kommentare. Das war nicht sehr demokratisch – aber Lafontaine hat sich dagegen, nach einer depressiven Phase, mit demokratischen Mitteln gewehrt: mit Erfolg bei den Wahlen.
Die Wagenknecht/Lafontaine-Partei
Man muss die großen und die kleinen Reden dieses furiosen Politiker studieren: Er ätzt, spuckt, lacht, beißt und keckert, er beleidigt, wenn es gerade sein muss, die Politiker seiner und der nachfolgenden Generationen. Seine politische Generation war die, die einst von Willy Brandt erweckt, von Helmut Schmidt gebeutelt, von Hans-Jochen Vogel belehrt und von Johannes Rau vergeblich befriedet worden ist.
Oskar Lafontaine ist, enttäuscht vom neoliberalen Schröder und einer für ihn grob unsozialen Schröder-SPD, aus der Sozialdemokratie geflohen und ist im Exil der Linkspartei derjenige geblieben, der er war: Ein Sozialdemokrat. Er träumte lange von einer Wiedervereinigung der Linken; das ist ein Traum geblieben und wird einer bleiben.
Erst einmal ist es demnächst seine Frau Sahra Wagenknecht, die der Spaltungsgeschichte der Sozialdemokratie und des Sozialismus in Deutschland ein neues Kapitel hinzufügen könnte – wenn sie, als Derivat der Linkspartei, eine neue Partei gründet, die derzeit der Einfachheit halber allgemein noch „Wagenknecht-Partei“ genannt wird, die man aber auch „Lafontaine-Partei“ nennen könnte. Nicht weil Lafontaine an der Gründung und Organisation groß beteiligt wäre, das ist er nicht; sondern deshalb, weil sie, weil Wagenknecht auf einer politischen Ebene mit ihrem Ehemann liegt.
„Zieht euch warm an, wir kommen wieder“
Die neue Partei (und erst recht die alte SPD) könnte einen wie ihn brauchen: „Zu lange“, rief Lafontaine damals, beim Mannheimer SPD-Parteitag, „zu lange haben wir nun das Lächeln der anderen ertragen müssen.“ Er rief das damals, als er den SPD-Vorsitzenden Scharping stürzte und sich zum Nachfolger wählen ließ, als Kampfansage an den politischen Gegner in den Saal. Und dann folgte eine Warnung: „Zieht euch warm an, wir kommen wieder“. Die SPD ist tatsächlich wiedergekommen – und dann wieder verfallen.
Lafontaine ist ein extrovertierter Politiker, der den Wert der introvertierten Arbeit kennt. Diese Gabe ist wenig bekannt: Nachdem er Scharping als SPD-Chef gestürzt hatte, stürzte er sich in die Innenarbeit der SPD, machte binnen zweier Jahre aus einem lahmen Haufen eine schlagkräftige Truppe, er pumpte die Partei wieder auf. Und als er viel später die Linkspartei aus dem Boden stampfte, war das wieder so. Auf diese Weise zeigte er es denjenigen, die ihn abgeschrieben und verachtet hatten: Den Genossen, den Konsorten und der Journaille, mit der er oft in Fehde lag.
So schuf er eine Partei links von der SPD; es war dies nicht nur ein Ergebnis seiner Agitationskraft nach außen, sondern auch seiner Disziplinierungskraft nach innen – die aber nicht sehr lange anhält, die nicht nachhaltig genug ist. Deswegen ist er auch, befremdet von deren aktueller Politik, aus der Linkspartei im Frühjahr 2022 wieder ausgetreten.
Alles hat ein Ende, die Wurst hat zwei, Lafontaine hat vier. Viermal hat er eine, viermal hat er seine politische Vita beendet. Das erste Mal, als er 1999 den Bettel als SPD-Vorsitzender und Bundesfinanzminister hinwarf und dann auch aus der SPD austrat. Das zweite Mal, als er aus Krankheitsgründen den Parteivorsitz der von ihm mitgegründeten Linken und sein Mandat im Bundestag aufgab. Das dritte Mal, als er 2012 auf seine nochmalige Kandidatur für den Parteivorsitz der Linken verzichtete und der Bundespolitik so noch einmal den Rücken kehrte. Das vierte Mal, als er 2022 als Fraktionschef der Linken im saarländischen Landtag seine letzte Rede hielt und dann auch aus dieser Partei, die sein Geschöpf war, wieder austrat – enttäuscht darüber, dass sie nicht mehr den Anspruch habe, „eine linke Alternative zur Politik sozialer Unsicherheit und Ungleichheit“ zu sein, wie er schrieb.
Er hadert nicht mit dem Schicksal
Er macht gleichwohl, kurz vor seinem achtzigsten Geburtstag, nicht den Eindruck, als ob er mit sich, mit seinem Schicksal und mit dem, was er nicht erreicht hat, hadere. Lafontaine ist nicht Kanzler geworden, obwohl er wie nur wenige andere das Zeug dazu gehabt hätte. Er habe viel Grund zur Dankbarkeit, sagt er. Das klingt nicht aufgesetzt. Darin steckt wohl auch die Erinnerung an das Attentat, das er 1990 nur knapp überlebte. Es hat ihn ein wenig scheu und beklommen gemacht, scheuer, als es in der Tagespolitik oft den Anschein hatte. Am kommenden Samstag wird Oskar Lafontaine, bei ziemlich guter Gesundheit, achtzig Jahre alt.