Kann der Chef der Freien Wähler wirklich wieder Vizeministerpräsident werden? Anders gefragt: Könnte Hubert Aiwanger am Holocaust-Gedenktag den Freistaat Bayern repräsentieren?

Von Heribert Prantl

Es sind viele Schlussstrichdebatten geführt worden in den Jahrzehnten seit der Befreiung von der Nazidiktatur. Die letzte solche Debatte wurde jüngst im bayerischen Landtagswahlkampf geführt. Einem widerlichen braunen Flugblatt aus dem Schuljahr 1987/88 wurde in Teilen der Öffentlichkeit zugutegehalten, dass es die Aufregung darüber nach so langer Zeit nicht mehr lohne. Es ist, von den Nachkriegsjahren bis heute, immer wieder gefordert worden, die Vergangenheit endlich ruhen zu lassen. Aber diese Vergangenheit ruht nicht. Wir spüren es im Großen und im Kleinen. Im Großen, wenn wir die Terrornachrichten aus dem Nahen Osten hören. Im Kleinen, wenn es um den Inhalt einer Schultasche aus den Achtzigerjahren geht.

Frank-Walter Steinmeier, das deutsche Staatsoberhaupt, hat vor ein paar Tagen im Schloss Bellevue ein Buch über „Die Bundespräsidenten und die NS-Vergangenheit“ vorgestellt. Das Buch ist das Ergebnis einer von ihm in Auftrag gegebenen Studie darüber, wie die Bundespräsidenten der Bonner Republik den Weg und den Stil der Auseinandersetzung mit dem sogenannten Dritten Reich und dem Holocaust mitgeprägt haben. Der Historiker Norbert Frei hat die Studie nach dreijährigen Recherchen verfasst. Sie endet nach 318 Seiten mit dem Satz: „Was als unabschließbare Aufgabe bleibt, ist die glaubwürdige Verkörperung jener Bereitschaft, aus der Vergangenheit zu lernen, der sich die Gründung der Bundesrepublik verdankt.“

Es fehlt die glaubwürdige Bereitschaft

Von dieser glaubwürdigen Bereitschaft hat man in den Debatten über das sogenannte Aiwanger-Flugblatt nicht sehr viel gemerkt. Schon gar nicht bei Hubert Aiwanger und seinen gedächtnisschwachen Erklärungen zum Flugblatt, das er einst in seiner niederbayerischen Gymnasialzeit in seiner Schultasche hatte. Auch nicht bei Markus Söder, der sich mit den hingerotzten Antwortsätzen Aiwangers auf seine 25 Fragen schnell zufriedengab, um wieder zur politischen Tagesordnung übergehen zu können.

Und die Bereitschaft, aus der Vergangenheit zu lernen, war nicht der gemeinsame Nenner der öffentlichen Diskussion. Dort wurden nämlich die Recherchen und die Fragen zu diesem Flugblatt oft als Kampagne kritisiert. Die Empörung über die angebliche Kampagne war größer als die Empörung über den widerlichen Inhalt des Flugblatts. Und so kam es, dass das braune Flugblatt dazu führte, dass Hubert Aiwanger bei der Landtagswahl einen großen Erfolg errang. Das braune Flugblatt und die Diskussionen darüber vergoldeten den Freien Wählern den Wahlzettel.

Denken wir nun ein paar Monate voraus, denken wir uns hinein in den Januar 2024. Stellen wir uns vor, Hubert Aiwanger ist auch in der neu gewählten bayerischen Staatsregierung stellvertretender Ministerpräsident. Stellen wir uns weiter vor, den Ministerpräsidenten Markus Söder hat eine Grippe erwischt, er kann also einige Zeit lang nicht öffentlich auftreten. Die Landtagspräsidentin Ilse Aigner ist auch malad und kann gleichfalls nicht auftreten. Also muss der Vizeministerpräsident antreten und den Freistaat repräsentieren.

Der Anlass, der im Januar ansteht, ist ein Gedenken: Der 27. Januar ist der Holocaust-Gedenktag. Es ist der Tag, der auf die Befreiung des KZ Auschwitz-Birkenau durch die Soldaten der Roten Armee im Jahr 1945 verweist. An diesem Tag wird auch in Bayern alljährlich das Gedenken für die Opfer des Nationalsozialismus begangen – für die Millionen, die vergast, erschossen und erschlagen wurden. Kann, darf ein Mann, darf ein Politiker dieses Gedenken zelebrieren, der im Verdacht steht, in seiner Jugend zynischen Spott mit diesen Opfern getrieben oder jedenfalls goutiert zu haben?

Das Entsetzen wird noch größer

Von dem Flugblatt, in dem dies geschah, ist nun seit vielen Wochen die Rede; Aiwanger will es nicht selber geschrieben, sondern allenfalls verbreitet haben; er hatte damals, wie er selbst sagt, ein oder mehrere Exemplare in seiner Schultasche. Dieses Flugblatt spricht vom „Vergnügungsviertel Auschwitz“, und es lobt in einem „Bundeswettbewerb“ Preise für „Vaterlandesverräter“ aus; als ersten Preis einen „Freiflug durch den Schornstein von Auschwitz“; als weitere Preise werden genannt: ein „lebenslänglicher Aufenthalt im Massengrab“, „ein kostenloser Genickschuss“, „eine kostenlose Kopfamputation durch Fallbeil“.

Es ist dies ein Pamphlet, das unsägliches Leid zum Gespött macht. Es macht die Millionen Opfer der Naziverbrechen zum Gegenstand von Larifari und braun-pubertärem Sarkasmus. Es verhöhnt die ermordeten Juden, es verhöhnt die ermordeten Widerstandskämpfer, es verhöhnt die ermordeten Homosexuellen. Es verhöhnt die Geschwister Scholl, den Pastor Bonhoeffer, den Jesuiten Alfred Delp, es verhöhnt den Grafen Stauffenberg und den einsamen Hitler-Attentäter Georg Elser. Das Flugblatt benutzt den Holocaust und den Widerstand für dreckigen Zynismus. Die Bilder von den in diesen Tagen in Israel von der Terrororganisation Hamas ermordeten, geschändeten und vergewaltigten Jüdinnen und Juden machen das Entsetzen darüber noch größer.

Man darf von einem bayerischen Ministerpräsidenten erwarten, dass er eine Regierung bildet, auf der nicht der Schatten eines braunen Flugblatts liegt. Man darf von einem bayerischen Ministerpräsidenten erwarten, dass er nicht einen Mann zu seinem Stellvertreter ernennt, der diesen Schatten verkörpert. Und man darf vom noch amtierenden Vizeministerpräsidenten erwarten, dass er Schaden von diesem Amt abwendet.


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