„Wenn wir dran sind, seid ihr alle weg“: Ein Verbot der AfD wäre mehr als nur abstrakter Systemschutz. Es geht dabei um den konkreten Schutz von Menschen.
Von Heribert Prantl
„Aber wenn die doch gewählt werden“, so heißt es immer wieder in den Diskussionen über ein Parteiverbot der AfD. „Wenn die Partei also zwanzig, dreißig, fünfunddreißig oder gar noch mehr Prozent der Stimmen bekommt“ – dann müsse man das doch akzeptieren und respektieren, wird gesagt. So sei halt Demokratie. Ist sie wirklich so? Nein, so ist Demokratie nicht.
Demokratie ist mehr als eine Kiste, sie ist mehr als Kiste mit einem Schlitz oben, sie ist mehr als eine Urne, zu der alle paar Jahre, in Deutschland immer an einem Sonntag, die Wahlberechtigten gehen, um dort ihren Zettel hineinzuwerfen. Demokratie ist viel mehr als eine Abstimmungsprozedur, sie ist eine Wertegemeinschaft. Diese Werte stehen im Grundgesetz, zualleroberst der Satz von der Unantastbarkeit der Menschenwürde: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“
Dieser Satz ist nicht einfach nur schönes Verfassungspathos, sondern er hat Auswirkungen darauf, wie der Rechts- und Verfassungsstaat mit jenen umgehen soll, die dieses höchste aller Grundrechte verbiegen und verachten. Der Schutz der Menschenwürde steht nicht unter dem Vorbehalt von zwanzig, dreißig oder noch mehr Prozent für eine Partei, die sich aussucht, welche Menschen sie für würdig halten will. Im Gegenteil: Je stärker eine Politik oder eine Partei ist, die die Menschenwürde angreift, desto wichtiger ist es, die Waffen der wehrhaften Demokratie zu entrosten; ansonsten ist sie eine wehrlose Demokratie.
Wenn ein Politiker Hunderttausende Menschen, die in Deutschland leben, aus dem Land treiben will, dann muss man ihn mit den Mitteln des Grundgesetzes aus dem Parlament und aus der Politik vertreiben. Der Artikel 21 Absatz 2 des Grundgesetzes, in dem das Parteiverbot geregelt ist, und der Artikel 18, in dem es um die Grundrechtsverwirkung und auf dieser Basis um die zeitweise Aberkennung der Wählbarkeit geht, sind so etwas wie der Personenschutz der Menschenwürde. Es wäre eine Narrheit, auf den Personenschutz gerade dann zu verzichten, wenn es am nötigsten ist.
Es geht nicht um einen abstrakten Schutz der Demokratie, es geht um den konkreten Schutz von Menschen – von Migranten, von Juden, von Menschen mit Behinderungen. Die wehrhafte Demokratie schützt nicht einfach nur ein System namens Demokratie, sie schützt Menschen, die in dieser Demokratie leben, aber allein zu schwach sind, um sich gegen Häme, Verachtung, Zynismus und Brutalität zu wehren.
Der Artikel 21 Absatz 2 und der Artikel 18 des Grundgesetzes sind Instrumente gegen die Verrohung von Staat und Gesellschaft. Sie werden ihre Wirkung haben, nicht nur bei der Politik, gegen die sie sich richten – sondern auch bei der Wählerschaft, weil sie zeigen, dass es dem Rechtsstaat ernst ist.
Das erste Fass ist weg
Es gibt ein Lehrdrama darüber, wozu es führt, wenn man die Brandstifter einfach gewähren lässt. Es ist von Max Frisch, es stammt aus der Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, es handelt von einem Herrn namens Biedermann, der Leute in seinem Haus beherbergt, die sich als Brandstifter gerieren und es auch sind. Der Biedermann beherbergt sie aus Großzügigkeit und aus Gutmütigkeit und weil er zeigen will, dass er sich von Hysterien nicht anstecken lässt. Er schreitet daher nicht ein, als die Brandstifter Benzinfässer auf dem Dachboden seines Hauses lagern, er reicht ihnen sogar Zündhölzer und misst mit ihnen Zündschnüre aus – um so zu demonstrieren, dass er ihnen vertraut.
So naiv und blöde wie der Biedermann ist der demokratische Rechtsstaat nicht. Soeben hat er das demonstriert und das rechtsextreme Netz- und Hetzwerk Compact verboten. Mit ihrer Verbotsverfügung hat die Bundesinnenministerin eines der Benzinfässer vom Dachboden gerollt. Die weiteren Fässer müssen folgen. Es muss dabei methodisch sorgfältiger als beim ersten Fass gearbeitet werden. Es geht nicht an, dass die notwendigen polizeilichen Aktionen vorab an Medien durchgestochen werden; das mag Dilettantismus sein oder Effekthascherei – beides geht nicht.
Demokratie ist eine Wertegemeinschaft. Und diese Werte stehen im Grundgesetz. Über die Realisierung dieser Werte kann, soll, muss man streiten – dieser Streit gehört zur Demokratie; er ist gemeinnützig, er gehört gefördert. Förderungswürdig sind auch Akteure, deren Ziele man gar nicht teilt. So ist es eben in einer Demokratie: Die einen halten die Globalisierungskritiker, die gegen den Finanzkapitalismus streiten, für Chaoten. Die anderen halten die sogenannten Lebensschützer, die gegen Abtreibung kämpfen, für Spinner. Aber: Auch die Ansichten, die die Mehrheit für verquer hält, gehören zum demokratischen Diskurs und sind daher nützlich.
Eines geht freilich nicht: Grundrechtsfeindlichkeit und Gemeinnutz – das geht nicht zusammen. Wer Konzepte verficht, die auf rassistische Diskriminierung zielen, wer gegen Minderheiten hetzt, wer aggressive völkische Positionen in die Politik pumpt – der soll das nicht auch noch mit steuerlicher Förderung und unter den Dächern und in den Räumen des demokratischen Gemeinwesens tun. Warum nicht? Weil die Würde des Menschen unantastbar ist. Es gilt, den Weg nach rechts draußen zu versperren, mit Kraft und Entschlossenheit.
Brandmäuerchen oder Brandmauern?
In Polen zur Zeit der Rechtsaußen-Regierung der PiS-Partei hat sich gezeigt: Es gibt unendlich viele Methoden, ein Verfassungsgericht zu demolieren. Es hat sich auch gezeigt, dass der destruktiven Kreativität bei der Behinderung des Rechtsstaats keine Grenzen gesetzt sind.
Deswegen läuft es einem kalt den Rücken herunter, wenn auch in einem deutschen Gerichtssaal gedroht wird: „Wenn wir dran sind, seid ihr alle weg.“ Die Schilderung einer solchen Drohung in einem Gerichtssaal war der Gänsehaut-Moment bei einer Veranstaltung des Bayerischen Richtervereins und des Deutschen Richterbundes im Münchner Justizpalast vor ein paar Tagen.
Es ging dort um die Frage: „Was schützt den Rechtsstaat von innen?“ Brauchen wir Brandmäuerchen oder Brandmauern? Oder soll man die Dinge einfach laufen lassen, soll man auf die Potenz des Rechtsstaats vertrauen und seine Fähigkeit, auch Verfassungsrichter zu verdauen, die von der AfD vorgeschlagen werden? Erich Kästner hat da schon vor Jahrzehnten einen literarisch eingekleideten Rat gegeben: „Man darf nicht warten, bis aus einem Schneeball eine Lawine geworden ist. Man muss den rollenden Schneeball zertreten. Die Lawine hält keiner mehr auf. Sie ruht erst, wenn sie alles unter sich begraben hat.“
Wer den Gang der Dinge in Thüringen beobachtet, wo der Neonazi und AfD-Fraktionschef Björn Höcke nach der Macht greift, der sieht, dass der Schneeball dabei ist, zur Lawine zu werden. Ein Lamentieren am Rand der politischen Piste hilft da nichts. Es braucht da das große Besteck, es braucht da die großen Instrumente der wehrhaften Demokratie. Das ist der Lawinenschutz, den die Demokratie verlangt. Man darf nicht warten, bis Neonazis die Parlamente dirigieren, die Lehrpläne an den Schulen diktieren und ihr braunes Personal an die Schaltstellen von Judikative und Exekutive schicken. Zum Lawinenschutz zählt schon die Einleitung der einschlägigen Verfahren.