Nach 500 Jahren ist es Zeit, dem Bauernmanifest von damals den gebührenden Rang in der Geschichte der deutschen Demokratie einzuräumen.
Kolumne von Heribert Prantl
Die Demokratie hat viele Beinamen, die sie näher beschreiben: Sie heißt liberale Demokratie, sie heißt repräsentative Demokratie, sie heißt wehrhafte, rechtsstaatliche oder konstitutionelle Demokratie. Die deutsche Demokratie ist das alles auch. Vor allem aber ist die deutsche Demokratie eine schüchterne und nüchterne Demokratie. Sie traut sich nicht, stolz zu sein auf das, was sie kann, und auf das, was sie ist. Und vor allem traut sie sich nicht, stolz zu sein darauf, woher sie kommt, und darauf, wie hart und wie bitter sie erkämpft wurde.
Vor fünfhundert Jahren, 1525, begann hierzulande die Demokratie
Die Franzosen zelebrieren mit ausgelassener Inbrunst das Gedenken an die Revolution von 1789. Die US-Amerikaner legen am 4. Juli die Hand aufs Herz. Sie feiern so die Geschichte ihrer Demokratie, sie kennen ihre Wurzeln. Und die Deutschen? Sie kennen zwar einen Tag der Arbeit, aber davon, wie ihre Grund- und Freiheitsrechte erarbeitet und erkämpft wurde, wissen sie wenig; und davon, wie tief die Wurzeln der Demokratie in ihrem Land reichen – davon wissen sie gar nichts. Das Jahr 2025 ist ein Jahr, um das gründlich zu ändern. Vor fünfhundert Jahren, 1525, begann hierzulande die Demokratie. Sie begann mit einer spektakulären Urkunde, einem Freiheits- und Gerechtigkeitsmanifest; und sie begann mit den Ereignissen, die heute Bauernkriege heißen.
Die Forderungen und Aufstände der entrechteten Bauern waren nicht eine Entartung von Luthers Reformation, nicht einfach pöbelhafte Exzesse, als die sie damals und später von den Fürsten und willfährigen Obrigkeiten diskreditiert wurden; sie waren eine gewaltige Freiheitsbewegung. Diese Bewegung reichte von Brixen, Trient und Venetien über Salzburg, den Oberrhein, das Elsass und die Pfalz nach Franken und Thüringen, schließlich bis Münster, Osnabrück und Dortmund. Im Zentrum der Bewegung standen Schwaben und die freie Reichsstadt Memmingen. Dort, in der Stube der Kramerzunft, tagten vor fünfhundert Jahren die Vertreter der Bauern. In zwölf Artikeln propagierten sie, „dass wir frey seyen und wöllen sein“.
Sie wünschten sich eine Gesellschaft, in der sie nicht länger geschunden werden
Diese Bauern-Artikel tragen eine religiöse Handschrift, sie sind geprägt vom Glauben an die Gerechtigkeitsaussagen der Bibel, die „unverfälscht“ gelten sollen. Sie forderten die Abschaffung der Leibeigenschaft, sie forderten die Verringerung der brutal hohen Lasten und Abgaben. Die Bauern waren zornig darüber, dass sie im Wald nicht Holz sammeln und nicht jagen durften, die Herren ihnen aber auf der Jagd die Felder zertrampelten. Sie wünschten sich eine Gesellschaft, in der sie nicht länger geschunden werden, und sie hatten die bis heute moderne Vision von einer „brüderlichen Gerechtigkeyth“, von einer Welt, in der die Ressourcen der göttlichen Schöpfung miteinander geteilt werden. Sie forderten eine Ordnung, in der das Recht herrscht und nicht die Willkür. Sie forderten daher die „Allmende“ zurück, also den Gemeinschaftsbesitz; die adligen Grundherren hatten sich Gemeindeäcker und Gemeindewiesen widerrechtlich angeeignet.
Die fünfzig Vertreter des „Uffruhrs“, die am Memminger Weinmarkt tagten, waren das erste deutsche Volksparlament; und ihre zwölf Artikel waren der eingängige Entwurf zu einer Verfassung von einer grund- und menschenrechtlichen Kraft, wie dann bis 1848 keine mehr verfasst wurde. Es führt eine grundrechtliche Linie von der Kramerstube in Memmingen im Jahr 1525 hin zur Frankfurter Paulskirche im Jahr 1848, weiter zur Weimarer Reichsverfassung von 1919 und zum Grundgesetz von 1949.
Die Bauernartikel sind ein „Monument der Freiheitsgeschichte“, und der Artikel 1 des Grundgesetzes, also der Satz: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, ist ihr „fernes Echo“; so sagte es der damalige Bundespräsident Johannes Rau vor 25 Jahren. Der Kürschner und Schriftsteller Sebastian Lotzer aus Horb am Neckar und Christoph Schappeler, Prediger in der Memminger Sankt-Martins-Kirche, die als Hauptverfasser der Bauernartikel gelten, stehen am Beginn einer langen Reihe von Mutmachern und Aufklärern, die bis hin zu den Müttern und Vätern des Grundgesetzes führt, also bis hin zu Elisabeth Selbert und Carlo Schmid.
Die Dreschflegel und Sauspieße der Bauern halfen nicht gegen die Übermacht der kampferprobten Heere
Es zeigte sich 1525 zum ersten Mal die Kraft der Pressefreiheit: Es erschienen damals innerhalb von wenigen Wochen an vielen Orten Drucke der zwölf Memminger Bauernartikel mit einer für die damalige Zeit sensationellen Auflage von insgesamt 25 000 Exemplaren. Ohne die Druckerpresse hätte es die Aufstände nicht gegeben. Die Presse war freilich machtlos gegen die Brutalität, mit der die Fürsten reagierten. Die Dreschflegel und Sauspieße der Bauern halfen auch bei grenzenlosem Gottvertrauen nicht gegen die Übermacht der kampferprobten Heere, deren Schwerter und Kanonen. Das Aufbegehren von 1525 wurde niedergeschlagen, niedergeschossen und gevierteilt.
„Ein Schlachten wars“, um es mit Schiller zu sagen, „nicht eine Schlacht zu nennen.“ Noch heute wird die „Blutrinne“ gezeigt, die von einem Schlachtfeld bei Frankenhausen in Thüringen hinunter in die Stadt führt. Siebzig- bis hunderttausend Bauern sollen 1525 im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation massakriert worden sein.
Die Bauernartikel waren nicht bäurisch plump. In ihnen spiegelt sich nicht einfach nur religiöser Eifer. In ihren Forderungen klingt schon an, was viel später ein John Locke mit dem Recht auf Leben und Freiheit, ein Jean-Jacques Rousseau mit dem Gemeinwohl, ein Charles de Montesquieu mit der Gewaltenbalance propagiert haben. Die Geschichte des Kampfes gegen Unterdrückung, für Freiheit und Menschenrechte in Europa beginnt also nicht erst 1789, sie beginnt mehr als 250 Jahre vorher.
Martin Luthers kriecherische Schrift „Wider die Mordischen und Reubischen Rotten der Bawren“
Die Erinnerung daran ist ausgemerzt worden durch die Brutalität, mit der die Bauernbewegung in den deutschen Landen niedergeschlagen wurde, und durch die berechnende Niedertracht, mit der die Bauern als besoffen-kriminelle Dummköpfe verspottet wurden. Über 250 Jahre hat sich dann kaum mehr Widerstand gegen die Herrschaften geregt. Die üble Nachrede und Verleumdung begann mit der fürstenkriecherischen Schrift Luthers „Wider die Mordischen und Reubischen Rotten der Bawren“ und zeigt sich bis heute in einem zeitgenössischen Denkmal auf dem Marktplatz in Mainz, einem Brunnenrelief, auf dem der aufständische Bauer als Mistkerl karikiert wird.
Es ist Zeit dafür, dem Jahr 1525 den historischen Rang einzuräumen, der ihm gebührt. Dieses Jahr ist ein Wurzeljahr der Demokratie.
Hinweis: Diese Kolumne erschien zuerst am 09.01.2025 in der Süddeutchen Zeitung.