Ist er rechts außen? Ist er schon braun? Ist er überhaupt noch demokratisch? Was jetzt noch hilft, ist ein Befreiungsschlag. Eine Idee dazu.
Kolumne von Heribert Prantl
Die AfD ist eine demokratisch gewählte antidemokratische Partei. Das Machtzentrum dieser Partei ist extrem rechtsextrem und unverfroren neonazistisch, die Wähler dieser Partei sind es überwiegend nicht. Ganz viele Wähler dieser Partei sind enttäuscht und aufgebracht, zornig, empört und wütend: Sie zweifeln erst verzweifelt, dann leidenschaftlich und inbrünstig an der Problemlösungskompetenz der demokratischen Parteien. Sie nutzen die AfD als ihren Wutableiter und machen die AfD zum Wuteinleiter in die Parlamente. Die AfD zieht bürgerliche Wähler an, auch viele Jungwähler, obwohl sie immer weniger bürgerlich ist; die AfD zieht diese Wähler an, weil sie ihnen das Blaue vom Himmel verspricht und dabei so radikal präsent ist wie keine andere Partei; derweil wird im Machtzentrum dieser Partei die braune Revolution vorbereitet und die ethnisch reine Nation propagiert.
Dieses Machtzentrum betreibt die fortschreitende Radikalisierung der AfD, es propagiert eine nationale Wendezeit. Das AfD-Machtzentrum bilden nicht die derzeitigen Vorsitzenden Alice Weidel und Tino Chrupalla. Es wird angeführt vom thüringischen Fraktionschef Björn Höcke und ideologisch doktriniert und organisiert vom „Institut für Staatspolitik“ des faschistischen Verlegers Götz Kubitschek sowie seinem Gefolge im sachsen-anhaltischen Schnellroda. Für diese Ideologiefabrik ist die Zerstörung der Weimarer Republik ein Vorbild für die Zerstörung der Bundesrepublik, sie betreibt die Vertreibung von Millionen Menschen aus Deutschland. Von „wohltemperierter Grausamkeit“ und vom „Auskämmen“ ist die Rede. Höcke und Co. versuchen, auf der Basis einer galoppierenden bürgerlichen Unzufriedenheit einen braunen Zeitgeist zu restaurieren, zu stabilisieren und zu attraktivieren.
Die Anziehungskraft der AfD steigt mit ihrer Radikalisierung
Das funktioniert bisher gefährlich gut – und die Gefährlichkeit wird durch die AfD-Wahlerfolge gesteigert. Es verblüfft und erschreckt, dass die Anziehungskraft der AfD mit ihrer Radikalisierung nicht gesunken, sondern gestiegen ist. Offenbar ist die Sehnsucht nach einer politischen Remedur, nach einer grundsätzlichen Änderung der Politik, nach einer gewaltigen Problemlösungsoffensive so groß, dass viele Wähler der AfD deren Neonazismen in Kauf nehmen oder sich damit abfinden. Diese Grundstimmung bildet den um sich greifenden Zeitgeist Nr.1. Dagegen helfen nicht die Beschimpfung und die Verketzerung der AfD-Wähler; dagegen helfen die Restaurierung, die Stabilisierung und die Attraktivierung eines demokratischen Zeitgeistes, eines Gegenzeitgeistes gegen die AfD, der wieder zur Nr.1 werden muss.
Die Begeisterung und die Leidenschaft dafür gibt es, wie die gewaltigen bundesweiten Demonstrationen im Februar und März 2024 gezeigt haben: Die Bürger sind nach dem Bekanntwerden der Remigrationspläne der Neonazis zu Millionen auf die Straße gegangen (und 1,7 Millionen Menschen haben eine „Höcke stoppen“-Resolution der Organisation Campact unterzeichnet). Es waren dies die umfassendsten Demonstrationen in der Geschichte der Republik. Aber sie hatten nicht die nachhaltige Potenz, nicht den langen Atem, den das Wiedererstarken eines Zeitgeistes braucht. Sie waren das Aufflackern eines demokratischen Feuers und Furors; sie hatten aber nicht die substanziell-programmatische, die begeisternde und mitreißende Kraft, die ein Zeitgeist braucht, um zu dominieren.
Der Zeitgeist trollte sich weg von Grünen und FDP
Jahrelang war ein solcher Gegenzeitgeist bei den Grünen zu Hause; die Klimakrise gab dem grünen Zeitgeist Auftrieb und Kraft. Er war europafreundlich, liberal und ökologisch, aufgeklärt, grundrechtsbewusst und minderheitenorientiert. Aber: In der Ampelregierung kamen die Grünen nicht mehr auf einen grünen Zweig, sie wurden vom Image als Verbotspartei bemakelt; sie schnitten im Ukrainekrieg ihre pazifistischen Wurzeln radikal ab, das hat ihren Ruf als Friedenspartei zerstört. Der Zeitgeist trollte sich – und die Parteiführung ist konsterniert ratlos und hat deshalb soeben aufgegeben. Die FDP ist ähnlich konsterniert; sie kommt aber offenbar nicht auf die Idee, dass die zwanghaften Sparverdikte ihres Vorsitzenden und der nervige Militarismus ihrer Spitzenpolitikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann jedenfalls im Osten am dortigen Sturz der Partei ins Bodenlose schuld sein könnten.
Und die SPD: Sie ist Kanzlerpartei, sie weiß das aber ebenso wenig für sich zu nutzen wie der Kanzler; im Gegenteil. Gewiss ist es ungerecht, wenn die gesammelten Defizite und Desaster bei ihm und seiner Ampel abgeladen werden; wenn alles, was nicht funktioniert, der Regierungskoalition angelastet wird: Es war die Regierung Merkel, die die Migration nicht in den Griff gekriegt hat; und die Probleme der Verkehrsinfrastruktur haben die CSU und ihre Verkehrsminister verursacht; das Chaos bei der Bahn, das nicht nur die Pendler in den Wahnsinn treibt, haben sie angerichtet. Die desolate Situation an den Schulen, der grassierende Mangel an Pädagogen, die personelle Unterbesetzung der Kitas und Kindergärten – das alles ist älter als die Ampel. Und dass ein Kassenpatient mit Verdacht auf Darmkrebs zwei Monate auf ein MRT warten muss – das ist nicht erst seit gestern so. Aber all das, zusammen mit dem Mickern der Wirtschaft, fügt sich zu einem Frust-, Wut- und Zornpuzzle zusammen. Gewiss: Ein Zeitgeist ist flüchtig, er hält sich nicht ewig bei einer Partei auf. Das hat die Gesellschaft schon etliche Male erlebt in der jüngeren Vergangenheit; selbst bei der FDP war er schon eine Zeit lang zu Hause; er ist wetterwendisch; aber darauf, dass er sich von der AfD wendet, kann man nicht einfach fatalistisch warten.
Die Schuldenbremse ist eine Problemlösungsbremse
Es braucht einen Befreiungsschlag. Dieser besteht zuallererst in der Demontage der Schuldenbremse. Die dringend notwendigen Reformen kann man mit ihr nicht finanzieren. Die Schuldenbremse ist eine Problemlösungsbremse, eine Problemverschärfungsapparatur, ein Frustrationsbooster, ein Politikvertrauenskiller. Sie spart die Zukunft kaputt – und sie verhindert den Stimmungswechsel in der Gesellschaft. Es braucht diesen Stimmungswechsel, es braucht ihn, auf dass darauf ein neuer Zeitgeist wachsen kann; einer, der nicht rot, nicht grün, gelb oder schwarz zu sein braucht, einer, der nicht an einer einzelnen Partei andockt, sondern an der demokratischen Lust: der Lust am respektvollen Streiten und an der gemeinsamen Ablehnung neonazistischer Umtriebe.