Dem neuen Bundestag droht Vergiftung durch die AfD; doch es gibt ein Antidot. Wenn die Demokraten es nicht nutzen, machen sie sich unterlassener Hilfeleistung schuldig. 

Kolumne von Heribert Prantl

Eigentlich ist der kommende Dienstag ein Festtag der Demokratie. Eigentlich. Ein neuer Bundestag tritt zusammen; es ist der einundzwanzigste in der Geschichte der Bundesrepublik. Aber ein Tag zum Feiern ist es nicht. Noch nie seit 1949 waren die Radikalen und die Extremisten so stark in einem deutschen Bundesparlament vertreten; noch nie bildeten sie dort die zweitstärkste Fraktion; jetzt ist es so. Noch nie hatten sie so viel Zugriff auf Posten und Geld, noch nie hatten sie so viel Einfluss; noch nie konnten sie so auftrumpfen. Die AfD ist radikaler, hemmungsloser, mächtiger denn je.

Die AfD-Fraktion ist von bisher 76 auf jetzt 152 Mitglieder angewachsen. Was das bedeutet, welche Folgen das hat, wie sehr es das politische Klima verwandeln und vergiften wird – das ist derzeit noch gar nicht zu ermessen. Die anderen Parteien und Fraktionen, die nicht bloß, wie die AfD, demokratisch gewählt, sondern auch demokratisch sind, haben sich bisher nicht entschließen können, das Gegengift gegen die Vergiftung zum Einsatz zu bringen. Das Grundgesetz hält es in Artikel 21 bereit. Von diesem Antidot handelt diese Kolumne – sie handelt also vom Verbotsantrag gegen die AfD beim Bundesverfassungsgericht. Seitdem die AfD bei der Bundestagswahl so viel Erfolg hatte, ist von einem solchen Antrag aber kaum mehr die Rede. Es ist, als habe der Wahlerfolg die Partei geadelt. Aber das Gegenteil ist richtig. Die AfD ist jetzt gefährlicher denn je.

Im neuen Bundestag ist diese Partei Oppositionsführerin. Ihre Redner werden also als erste ans Pult treten, nachdem die Regierung gesprochen hat. Fast jeder vierte Abgeordnete gehört jetzt zur AfD. Dort sitzen Abgeordnete, die über Hitler und die SS verharmlosend und freundlich reden, dort sitzen Abgeordnete, die gern die alten Nazilieder singen, die sich als „das freundliche Gesicht des NS“ bezeichnen und den „demokratischen Freisler“ geben wollen. Dort sitzen Leute, die NS-Propaganda verbreiten, dort sitzen Leute, die über das „multikulturelle Schlachthaus“ Deutschland geifern und die „millionenfache Remigration“ fordern. Dort sind Abgeordnete zu Hause, die „Raus mit die Viecher“ propagieren und damit Migranten meinen, die also die Grundrechte mit Füßen treten. In der AfD-Fraktion sitzen die Verfassungsfeinde im Schutz des Hohen Hauses und genießen die dortigen Privilegien. Sie sind demokratisch gewählt, aber nicht demokratisch. Im Gegenteil: Sie nutzen die Demokratie, um sie auszuhöhlen und ihr maximal zu schaden.

Verfassungsfeinde im Schutz des Hohen Hauses: Ein Frevel wider die Demokratie?

Das wird sich schon in den ersten Tagen der neuen Legislaturperiode zeigen: Die AfD wird personalstark und kraftstrotzend in die wichtigsten Ausschüsse des Bundestags einziehen, sie wird auch den Anspruch erheben, dort die Vorsitzenden zu stellen. Sie wird das Amt eines Vizepräsidenten oder einer Vizepräsidentin des Bundestags für sich reklamieren und den Zugang zu Geheimdienstinformationen. Die AfD wird den Sitzungssaal fordern, der bisher der SPD zustand und dem die Sozialdemokraten den Namen ihres politischen Ahnen Otto Wels gegeben haben; Wels hat 1933 die berühmte, mutige und ergreifende Rede gegen Hitlers Ermächtigungsgesetz gehalten. Die AfD will nicht nur auf den Saal, sondern auch gleich auf Otto Wels zugreifen, und reklamiert ihn als Arbeiter und Widerständler für sich. Das ist unverschämt. Die Abwehrversuche all dieser Forderungen, bei denen sich die AfD auf ihre numerische Stärke stützt, hätten größere Kraft, wenn dabei darauf verwiesen werden könnte, dass gegen die AfD ein Verbotsantrag läuft. Es ist ein Frevel wider die Demokratie, keinen Verbotsantrag zu stellen; es ist dies eine schandbare Unterlassung.

Im Strafrecht gibt es die sogenannten Unterlassungsdelikte: Da wird eine Straftat gerade dadurch begangen, dass nichts getan wird. Wer beispielsweise einer Person in Not nicht hilft, obwohl Hilfe erforderlich, möglich und zumutbar ist, macht sich strafbar; die gebotene Hilfe kann auch im Absetzen eines Notrufs bestehen. Wenn das nicht geschieht, ist das strafbar. Der Verbotsantrag in Karlsruhe gegen eine verfassungsfeindliche Partei wäre auch so ein Notruf. Es ist dies zwar keine Straftat, aber es ist eine demokratische Sünde, ihn nicht abzusetzen.

Im Strafrecht ist das Unterlassen eines Notrufs, ist die unterlassene Hilfeleistung ein Vergehen mit einer eher milden Strafdrohung – Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr. Erheblich härter, nicht nur als Vergehen, sondern als Verbrechen, wird bestraft, wenn derjenige, der nicht hilft, eine Pflicht zur Hilfe hat: Bestimmte Personen trifft nämlich über die allgemeine Hilfspflicht hinaus, die ja ein jeder hat, eine besondere Verpflichtung, Gefahren abzuwehren: Wenn eine Mutter ihr Kind verhungern lässt, kann das als Tötungsdelikt bewertet werden, also als Mord oder Totschlag bestraft beziehungsweise als einschlägiger Versuch in Tateinheit mit schwerer Misshandlung des Schutzbefohlenen.

Und was ist mit den Demokraten, was ist mit den demokratischen Verfassungsorganen, die die Demokratie verhungern lassen? Wer die Diskussionen nachliest, die einst im Parlamentarischen Rat über die wehrhafte Demokratie geführt wurden, wer weiß, wie wichtig den Müttern und Vätern des Grundgesetzes die Möglichkeit des Verbots einer verfassungsfeindlichen Partei war – der fragt sich dann, ob es nicht geradezu eine Pflicht der Verfassungsorgane ist, in einer Konstellation, wie sich jetzt im Bundestag zeigt, den Verbotsantrag beim Bundesverfassungsgericht zu stellen. Das Ermessen, frei darüber zu entscheiden, ob ein Verbotsantrag gestellt werden soll, ist angesichts der neuen Mächtigkeit der AfD auf null geschrumpft: Die drei antragsberechtigten Verfassungsorgane (Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung) müssen den Verbotsantrag ernsthaft prüfen und dann entschieden stellen. Die genannten Verfassungsorgane und die sie tragenden demokratischen Parteien sind Beschützergaranten der Demokratie. Es geht nicht einfach nur um eine Frage der politischen Ästhetik; es geht nicht einfach um die Aufrechterhaltung von Gewohnheiten des politischen Betriebs. Es geht um den Fortbestand der Demokratie.

Hinweis: Diese Kolumne erschien zuerst am 20.03.2025 in der Süddeutchen Zeitung.