Die Justiz in Deutschland ist abhängiger von der Politik, als es das Grundgesetz vorsieht. Sie braucht einen Schutzschild gegen Rechtsextremisten. Wie der konstruiert werden muss.
Kolumne von Heribert Prantl
Der Richter war angetan. Er war angetan vom Angeklagten, der unter anderem wegen Volksverhetzung vor ihm stand. Der Richter fand Gefallen an dessen Engagement gegen „jüdische Ansprüche aus dem Holocaust“; es müsse ja, meinte er, „endlich einmal ein Schlussstrich“ gezogen werden. Der Richter attestierte dem Rechtsextremisten daher Charakterstärke und Verantwortungsbewusstsein. Er verurteilte den Mann trotz dessen einschlägiger Vorstrafen also nur zu einer milden Bewährungsstrafe und propagierte in zahlreichen Interviews die Meinungsfreiheit des Angeklagten im politischen Meinungskampf. Das ist jetzt gut dreißig Jahre her.
Der Angeklagte war der damalige Vorsitzende der neonazistischen NPD, und der mit ihm sympathisierende Mannheimer Richter hieß Rainer Orlet. Sein Urteil erregte weltweit Aufsehen. Einer Richteranklage beim Bundesverfassungsgericht (es wäre die erste gewesen in der Geschichte der Bundesrepublik) entging der Richter nur dadurch, dass er sich vorzeitig in den Ruhestand flüchtete.
Wie viele Orlets gibt es heute in der Justiz? Es gibt keine Statistik, es gibt nur Einschätzungen; diese halten „Rechte Richter“ (so der Titel eines Buches des Kriminologen und Fernsehjournalisten Joachim Wagner aus dem Jahr 2021) noch für ein Randphänomen, „aber ein zunehmendes“. Eines dieser Randphänomene heißt Birgit Malsack-Winkemann. Die Berliner Richterin saß von 2017 bis 2021 als AfD-Abgeordnete im Bundestag. Seit Dezember 2022 sitzt sie in Untersuchungshaft als mutmaßliches Mitglied einer rechtsterroristischen „Reichsbürger“-Truppe, der vorgeworfen wird, einen Staatsstreich geplant zu haben. Sie ist ein Einzelfall. Aber die „ideologische Nähe“ von immer mehr Richtern zu einer „Mischszene aus Rechtsextremisten, Reichsbürgern und Querdenkern“ (so Wagner) ist es nicht. Das gilt auch und insbesondere für die 60 000 Schöffen in Strafsachen. Sie werden 2027/28 neu gewählt.
Für eine starke Zunahme des Problems bei den hauptamtlichen Richtern sorgt einer wie der Neonazi Björn Höcke, der Vorsitzende und Fraktionschef der AfD in Thüringen. Die AfD stellt dort seit der Landtagswahl 2024 die stärkste Fraktion, sie verfügt über 32 der 88 Sitze, also über eine Sperrminorität. Höcke ist kein gelernter Richter, kein Orlet also, aber ein Orlet-Macher. Er will seine Macht unter anderem dafür nutzen, möglichst viele orletähnliche Richterinnen und Richter, Staatsanwälte und Staatsanwältinnen in der Justiz unterzubringen. Zu diesem Zweck treibt er Machtspiele bei der Besetzung der Landtagsausschüsse. Er blockiert den Richterwahlausschuss – erstens, um die Justiz in Schwierigkeiten zu bringen, und zweitens, um ein Entgegenkommen der demokratischen Parteien bei Personalvorschlägen der AfD zu erzwingen. Die Brombeer-Koalition in Thüringen, bestehend aus CDU, BSW und SPD, hat keine eigene Mehrheit im Landtag. Zusammen verfügen die drei Parteien über 44 von 88 Sitzen und benötigen somit Unterstützung aus der Opposition, um Beschlüsse durchzusetzen. Wie lange das gut geht? Man kann sich ausmalen, wie eine AfD es ausnutzen wird, wenn sie eines Tages in einer Regierung sitzt, womöglich den Justizminister stellt und dann starken Einfluss nimmt. Die deutsche Justiz ist dafür nicht gewappnet. Schon den Pressionen von heute ist sie kaum gewachsen.
Warum ist das so? Steht nicht im Grundgesetz der eherne Satz: „Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen“? Dieser Satz gilt nach wie vor, er steht im Artikel 97 und ist das Rückgrat der dritten Gewalt. Er ist die Grundlage für ein Berufsethos, das einiges aushält. Aber er stimmt nur in seinem ersten Teil. Der zweite Teil, wonach die Richter „nur dem Gesetz unterworfen“ sind, stimmt nicht. Die Richter, also die Protagonisten der dritten Gewalt, sind der zweiten Gewalt unterworfen. Für die gesamte Organisation und den Ablauf der Arbeit ist die Exekutive zuständig. Von ihr wird die Justiz verwaltet und mit Personal ausgestattet: Am Anfang der Richterlaufbahn entscheidet ein hoher Ministerialbeamter, der Personalreferent oder/und der Richterwahlausschuss, also ein politisch besetztes Gremium, über die Einstellung. Den weiteren Gang der Karriere bestimmt im Wesentlichen das Ministerium: Die Richter sind einem System der Benotung und Bewertung unterworfen, das vom Justizministerium, also von der Exekutive dirigiert wird. In manchen Landesministerien werden die Gerichte gar als nachgeordnete Behörden bezeichnet.
Warum es die Abnabelung der Justiz von der Politik braucht
Das ist heikel, das ist grundgesetzwidrig. Justiz ist nicht Teil der Exekutive; Ministerien haben also allenfalls Hilfsdienste zu leisten, um den Richtern die Erfüllung ihrer Aufgaben zu ermöglichen. So sollte es sein, so ist es aber nicht. In den Empfehlungen des Europarats über die Rolle der Richter und in den Kriterien der Europäischen Union über die Aufnahme neuer Mitgliedsländer heißt es: „Die für die Auswahl und Laufbahn der Richter zuständige Behörde sollte von der Exekutive unabhängig sein.“ In Frankreich ist das so. Die französische Justiz wurde nach dem Urteil gegen die Rechtsaußen-Politikerin Marine Le Pen von ihr und ihren Sympathisanten heftig kritisiert. Ohne diese institutionelle Unabhängigkeit, ohne die klare Trennung der Gewalten wäre die Kritik noch heftiger und gehässiger ausgefallen. Zugleich aber stellen diese Kritiker die Gewaltenteilung dadurch infrage, dass sie eine Rücksichtnahme der Justiz auf die durch Wahlen und Umfragen manifestierte demokratische Legitimation der (bisherigen) Präsidentschaftskandidatin Le Pen fordern. Das ist das Denken in Kategorien von autokratischer Herrschaft: Die Justiz soll der Macht zu Willen sein. So postuliert und exekutiert es Donald Trump in den USA. Die Justitia ist für ihn aus Knetmasse – beliebig formbar.
Es ist daher wichtig, die deutsche Justiz dem politischen Zugriff zu entziehen. Es muss gewährleistet werden, dass sie nicht der Parteipolitik und der von ihr gestellten Regierung unterworfen ist. Unabhängigkeit verlangt Abnabelung der Justiz von der Exekutive, sie verlangt Selbstverwaltung der Justiz durch die Richter. Das stärkt ihre Unabhängigkeit, das stärkt die Widerstandsfähigkeit der dritten Gewalt. Das ist ein Schutz vor radikalen Zugriffen.
Hinweis: Diese Kolumne erschien zuerst am 24.04.2025 in der Süddeutschen Zeitung.