Welche Zukunft haben die vielen Kirchenräume in Deutschland? Und wie bleibt ein zentraler Ort ein zentraler Ort?

In jedem Dorf, in jeder Stadt gibt es eine Notre-Dame. Es gib dort die kleinen und die großen Kathedralen, ohne die sich die Bürger ihren Ort nicht vorstellen können – und um die sie trauern würden, sollten sie abbrennen. Pascal Mercier hat in seinem berühmten Roman „Nachtzug nach Lissabon“ über sie geschrieben: „Ich brauche ihre Schönheit und ihre Erhabenheit. Ich brauche sie gegen die Gewöhnlichkeit der Welt. (…) Ich will mich einhüllen lassen von der herben Kühle der Kirchen. Ich brauche ihr gebieterisches Schweigen. Ich brauche es gegen das geistlose Gebrüll des Kasernenhofs und das geistreiche Geschwätz der Mitläufer.“ Das Problem ist nur: Der Zug nach Lissabon hat immer weniger Haltestellen.

Deutschland zählt derzeit noch 42 000 protestantische und katholische Kirchen und Kapellen. Über kurz oder lang wird es nur noch gut die Hälfte geben. Die Zahl der Katholiken und Protestanten schrumpft rasant, immer mehr Kirchenräume und Kirchenbauten werden nicht mehr benötigt – sie werden geschlossen, entwidmet, entweiht, profanisiert, umgenutzt, umgebaut, abgerissen. Bisweilen zieht ein Restaurant dort ein, manchmal ein Hotel, eine Bibliothek oder ein Kletterpark. Aus der einen Kirche ist eine Art Gemeinschaftsbüro geworden, ein Co-Working-Space mit Arbeitstischen, Lounges und Ruhezonen; aus der anderen wurde ein Wohnhaus mit 17 Wohneinheiten, aus der von Olaf Andreas Gulbransson gebauten Lukaskirche in Kelheim, Niederbayern, wurden Ferienwohnungen. Manche neuen Nutzungen sind näher bei den Lebenden; manche sind näher bei den Toten – so wie in der ehemaligen Erlöserkirche St. Donatus in Aachen-Brand: Sie ist eine Begräbnisstätte für Urnenbeisetzungen geworden, ein Kolumbarium.

Dann wird das ewige Licht ausgeblasen, das Weihwasserbecken geleert, das Kruzifix abmontiert

Deutschland erlebt die Verwandlung und Umwandlung, bisweilen auch den Abriss seiner Kirchen. Diese Transformation beginnt bei und mit den Bauten, die in der wirtschaftlichen Euphorie der Nachkriegszeit gebaut wurden, als in den Pfarreien viele Flüchtlinge aus Schlesien, Pommern und Ostpreußen zu beherbergen waren. Diese Nachkriegskirchen sind leicht für neue Zwecke zu nutzen, sie stehen meist nicht unter Denkmalschutz. Auch Denkmalschutz schützt nicht davor, dass das religiöse Leben erlischt – dann wird das ewige Licht ausgeblasen, das Weihwasserbecken geleert, die Kruzifixe werden abmontiert und eingesammelt. Was soll geschehen mit den überzähligen Kirchengebäuden? Es geht ja dabei nicht um leere Hallen am Stadtrand. Es geht um das Zentrum von Stadtvierteln, um den Mittelpunkt von Dörfern; es geht um einen Ort von Geschichte und Identität, um einen Kristallisationspunkt von Kultur und Gesellschaft. Von den ungefähr 6000 Kirchen in Nordrhein-Westfalen werden bis zu dreitausend aus der Nutzung fallen. In der Erläuterung zu einer Wanderausstellung über „Kirchen als Vierte Orte“, die derzeit in der St. Ludgeri-Kirche in Münster gezeigt wird, heißt es, diesem Trend seien kirchliche Institutionen bis vor wenigen Jahren nicht oder kaum begegnet; deshalb habe sich aktuell der Handlungsdruck deutlich erhöht.

Da geschieht augenblicklich viel: Leer stehende Kirchenräume finden Nutzungen, die anschlussfähig an diakonische Arbeitsfelder sind; das kann eine Sozialstation sein, eine Demenz-WG, eine Wohnstätte für Menschen mit Behinderung, eine Bücherei, ein Zufluchtsort für Frauen. Aber das Viele ist noch zu wenig. Franz Kamphaus, der verstorbene Limburger Altbischof und Hochschullehrer für Pastoraltheologie, hat gesagt: Die Kirche gleiche einem abgemagerten alten Mann in viel zu großen Kleidern; einmal hätten sie ihm wohl gepasst, aber jetzt hingen sie an ihm herunter und hinderten ihn am Gehen. Zu den zu großen Kleidern gehören auch die Kirchenräume.

Aber auch wenn sie den Gemeinden zu groß sind: Es sind prachtvolle Kleider darunter, viele sind atemberaubend schön. Die entgrenzende Architektur der Kirchen ist darauf angelegt, Zeit und Ewigkeit zu verbinden. Kirchen sind nicht zum Wohnen, sie sind zum Staunen gebaut. Sie sind in ihrem gebieterischen Charakter eine Zumutung für das moderne Individuum und in ihrer unerbittlichen Stille ein Angriff auf das Geschnatter der Social-Media-Welt. Wer in eine Kirche geht, macht einen Ausflug in die Transzendenz. Er tritt in eine fremde Welt ein. Ein Kirchenraum, ob Kathedrale oder Dorfkirche, hat Kraft. Das Vulgäre und Gewohnte hat keinen Zugriff. Es ist ein Raum, in dem die Poesie der Psalmen lebt, in dem Wörter wie Barmherzigkeit, Seligkeit, Nächstenliebe und Gnade gesprochen werden. Sie helfen deshalb auch dem ungläubigen, dem säkularen Menschen bei dem, was er so nötig hat: wieder Mensch zu werden. Dafür und nicht allein wegen ihres kunsthistorischen Werts oder ihrer architektonischen Raffinesse werden sie auch von Kirchenverächtern geachtet. Sie sind ein Erbe der Menschheit. Das verstehen mittlerweile viele und erfinden deshalb einfallsreiche neue Nutzungen für die alten Gotteshäuser.

„Wir haben eine Kirche. Sie haben eine Idee?“

Wenn es besonders gut geht, wird die Kirche zum kontemplativen Publikumsmagneten – wie die Dominikanerkirche in der Stadt Münster: Dort hat Gerhard Richter 2018 das monumentale Kunstwerk „Zwei Graue Doppelspiegel für ein Pendel“ installiert. Unter der Vierungskuppel schwingt eine 48 Kilogramm schwere Metallkugel als Foucaultsches Pendel an einem langen Stahlseil; auf der Bodenplatte ist das Ablesen der Erdrotation möglich.

Sich gut zu überlegen, was zu den und in die alten Mauern passt – das ist nicht einfach nur eine Aufgabe der Kirchengemeinden, sondern eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Pionierarbeit leistet da das Stuttgarter zivilgesellschaftliche Bündnis, das sich 2017 unter dem Namen „St. Maria als …“ zusammengeschlossen hat, um die neogotische Kirche für die Stadtgesellschaft zu öffnen. Das Motto „Wir haben eine Kirche. Sie haben eine Idee?“ lädt dazu ein, sich mit seinen Einfällen auszutoben. Der Kirchenraum wird dafür frei zur Verfügung gestellt. Ausgeschlossen sind kommerzielle Projekte, Marketingveranstaltungen und Firmenfeiern. Deutschland braucht viele solcher „St. Maria als … “. Die räumliche Zukunft der Kirchen ist eine demokratische Aufgabe. Sie sind das o im Demos.

Hinweis: Diese Kolumne erschien zuerst am 18.09.2025 in der Süddeutschen Zeitung.