Frauen sind in der Politik stark unterrepräsentiert, die Männer stark überrepräsentiert. Die 87-jährige Rita Süssmuth will das mit einem „Manifest für Parität“ ändern.

Kolumne von Heribert Prantl

Die Geschichte der Gleichberechtigung war und ist eine Geschichte der Nichtgleichberechtigung. Daran ändern ein paar herausragende Personalia nichts. Sie verschleiern nur, dass es nach wie vor ein Gefälle sozialer Macht gibt zwischen den Geschlechtern. Vor dreißig Jahren, im September 1994, wurde Jutta Limbach zur Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts ernannt – als erste Frau in diesem Amt; sie blieb es acht Jahre lang. Vor 19 Jahren wählte der Bundestag Angela Merkel zur Bundeskanzlerin – als erste Frau in diesem Amt; sie blieb es 16 Jahre lang. Seit drei Jahren ist Bärbel Bas die Präsidentin des Deutschen Bundestags. Und seit 2019 ist Ursula von der Leyen Präsidentin der EU-Kommission; im Juli wurde sie wiedergewählt. Das könnten Indizien dafür sein, dass Gleichberechtigung nicht einfach nur im Grundgesetz steht, sondern erreicht ist. Aber: Sie ist es nicht. Bei den Feiern zum Grundgesetzjubiläum wurde das eher schamhaft verschwiegen.

Seit 1949 verdienen Frauen in der Bundesrepublik für gleiche oder gleichwertige Arbeit sehr viel weniger als Männer; heute, 75 Jahre nach dem Inkrafttreten des Gleichberechtigungssatzes, liegt der Gender-Pay-Gap noch immer bei fast zwanzig Prozent; dieser Einkommensdiskriminierung folgt ein „Gender-Renten-und-Pensions-Gap“ von fünfzig Prozent. Frauen tragen die Hauptlast der unbezahlten Care-Arbeit. Das heißt: Das Frausein berechtigt zur Altersarmut. Heiner Geißler, der ehemalige CDU-Generalsekretär und Minister, der schon vor vierzig Jahren einen CDU-Frauenparteitag organisierte und für eine Frauenquote bei den CDU-Parteiämtern warb, erklärte das schon in den Achtzigerjahren des letzten Jahrhunderts so: „Die Benachteiligungen der Frauen sind das Resultat einer Politik, die sich im Wesentlichen am Mann orientiert.“ Geißlers Nachfolgerin im Amt des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit war ab 1985 die Feministin Rita Süssmuth. 1988 wurde sie dann Bundestagspräsidentin und sie blieb es zehn Jahre lang.

Eine 87-Jährige kämpft ihren letzten politischen Kampf

Jetzt ist Süssmuth 87 Jahre alt – und sie kämpft ihren letzten politischen Kampf, mit dem sie die Männerzentriertheit der Politik beenden und die gesellschaftliche Wirklichkeit verändern will: Nach jahrelanger Vorbereitung und intensiver Werbung wird sie der amtierenden Bundestagspräsidentin am 9. Oktober im großen Protokollsaal des Reichstagsgebäudes ein „Manifest für Parität in deutschen Parlamenten“ überreichen. An diesem Manifest mit dem Titel „75 Jahre warten sind genug“ wird derzeit poliert. Es fordert, nach französischem Vorbild, ein Halbe-Halbe-Gesetz: Der Bundestag soll sich künftig aus ebenso vielen Frauen wie Männern zusammensetzen. Es ist dies das große Finale des Lebenskampfes der Rita Süssmuth für die Frauenrechte. Der „männliche Blick“ auf die Politik soll so durch einen „gleichberechtigten Blick“ ersetzt werden – und der Schlüssel dafür, so wirbt die gelernte Professorin für Erziehungswissenschaft mit furiosem und klugem Eigensinn, liege in einem paritätischen Wahlrecht.

Die Parteien sollen also verpflichtet werden, auf den Wahllisten jeweils im Wechsel einen Mann und eine Frau zu nominieren. Die Landesverfassungsgerichte in Sachsen und in Thüringen, wo solche Gesetze für den Landtag schon verabschiedet waren, hielten das zwar für verfassungswidrig; davon lässt sich Süssmuth aber nicht erschrecken und abhalten. Sie hält diese Urteile für eklatant falsch. Sie verweist erstens auf das Verwirklichungsgebot, das 1994 mit großer Klarheit in den Gleichberechtigungsartikel des Grundgesetzes eingefügt wurde: „Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Männern und Frauen und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“ Sie verweist zweitens auf die guten Erfahrungen mit der Parität in Frankreich. Sie verweist drittens auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, der die Paritätsgesetze in Spanien und in Slowenien gebilligt habe. Und sie verweist viertens darauf, dass unter dem Dach der Europäischen Menschenrechtskonvention und des EU-Rechts in schon elf EU-Mitgliedsstaaten Paritätsgesetze gelten.

Im Jahr 1918 wurde den Frauen in der Weimarer Reichsverfassung das Wahlrecht zuerkannt; nach der Wahl von 1920 zogen erstmals 37 Frauen in den ersten Reichstag ein; das war ein Frauenanteil von 8,7 Prozent. Nach dem Zweiten Weltkrieg und der Konstituierung der Bundesrepublik war er im ersten Bundestag noch niedriger als 1920: Er betrug 6,8 Prozent. Das änderte sich in den nächsten Legislaturperioden nur sehr schleppend: Er lag bis 1987 stets unter zehn Prozent. Als 1983 im Bundestag die Diskussion über die Strafbarkeit der Vergewaltigung in der Ehe begann (das Gesetz dazu wurde erst 1997 verabschiedet), führte allein das Thema zu großer Belustigung im Parlament – von 1983 bis 1987 waren dort über neunzig Prozent der Abgeordneten männlich. Erst 1998 erreichten Frauen die Dreißig-Prozent-Marke; bei der letzten Bundestagswahl von 2021 betrug ihr Anteil 34,9 Prozent.

Parität wäre ein Gleichberechtigungsturbo

Dabei fallen die Frauenanteile in den einzelnen Fraktionen sehr unterschiedlich aus. Dort, wo sich die Parteien freiwillig Frauenquoten verordnet haben, liegen sie zwischen 40 und 60 Prozent, dort, wo das nicht der Fall ist, erheblich niedriger – bei der AfD nur bei 13,8 Prozent. Die frühere Bundesverfassungsrichterin Christine Hohmann-Dennhardt bemerkt, das sei „nicht gerade ein Ruhmesblatt für gelebte Gleichberechtigung“. Andere Länder können hier deutlich bessere Zahlen vorweisen: Deutschland steht nach Angaben der Interparlamentarischen Union mit seinem Frauenanteil im Bundestag im internationalen Vergleich derzeit auf Rang 45.

Die Parität sei, so heißt es bisweilen, ein Verstoß gegen das Demokratieprinzip. Das ist falsch. Sie ist Element einer sich fortentwickelnden Demokratie. Sie wäre, sie ist ein Gleichberechtigungsturbo. Ein Paritätsgesetz bringt das, was Helene Wessel, eine der wenigen Mütter des Grundgesetzes, schon 1949 im Parlamentarischen Rat gefordert hat: einen Wahlmodus, der die Möglichkeiten schafft, „die Frauen entsprechend ihrer Zahl und auch ihren Fähigkeiten, die sie immerhin seit 1919 im politischen Leben bewiesen haben, zu berücksichtigen“.