Sie kennen die Geschichte vom Weihnachtsfrieden 1914 vielleicht schon. Aber man kann sie in diesen Zeiten gar nicht oft genug lesen – zumal dann, wenn Sie so gut aufgeschrieben ist wie von Michael Jürgs. Es ist die Geschichte über einen Frieden von unten, wie es ihn noch nie in der Geschichte eines Krieges gegeben hatte und seitdem nie wieder gegeben hat.

Der Offizier Georg Reim schrieb in sein Tagebuch: „Wir fühlten uns glücklich wie die Kinder.“ Er schrieb diese Worte in einem dreckigen Schützengraben in Flandern im dreckigen Krieg, der heute der Erste Weltkrieg genannt wird und damals der Große Krieg genannt wurde. Die feindlichen Truppen lagen einander gegenüber; an manchen Stellen weniger als 30 Meter entfernt voneinander. Der vom wochenlangen Regen aufgeweichte Boden war gefroren. Der Schnee war das Leichenhemd der toten Soldaten im Niemandsland zwischen den Gräben, in denen die Heere sich verschanzt hatten. Wer sich zu zeigen wagte, war Futter für die Scharfschützen.

Doch am Heiligabend passierte etwas Wundersames: Eine kleine Gruppe von deutschen Soldaten stimmte das Lied von der Stillen Nacht an. Bei der zweiten Strophe sang die ganze Kompanie mit. Die Briten auf der anderen Seite schwiegen. Keine Antwort mit Granaten oder Gewehren. Plötzlich sprengte der Ruf „Fröhliche Weihnachten!“ die andächtige Stille. Von den gegenüberliegenden britischen Graben schallte es zurück: „Merry Christmas“. Dann folgte wie befreit lauter Applaus: „well done Fritzens“, und schließlich sangen sie zurück „The first Noel“ und „Home, Sweet Home.“ Es entstand eine Schlacht der Lieder. „We not shoot, you not shoot!“ riefen die Deutschen und statt Kugeln flogen Geschenke: Käse und Kommissbrot. Kekse und Corned Beef flogen zurück. Die Todfeinde kamen aus ihren Gräben und trafen sich im Niemandsland; sie begruben ihre Toten. Dann tauschten sie Geschenke aus und zeigten sich Fotos von ihren Familien, fotografierten sich gegenseitig. An einem Frontabschnitt wurde am Weihnachtsmorgen sogar ein Fußballspiel ausgetragen.

Die Herren des Krieges nannten das „Fraternisierung“, als wäre es etwas Schlechtes, wenn man im Erbfeind den Bruder erkennt. Für sie war es Hochverrat. Und nach Weihnachten war auf Befehl von oben alles vorbei. Es wurde wieder gehorcht. Es wurde wieder geschossen. Man nahm einander wieder ins Visier. Ob ein Soldat den Finger vom Abzug genommen hat, wenn er auf der anderen Seite das Gesicht dessen erkannte, mit dem er sich ersten Weihnachtstag hatte fotografieren lassen?

Wer findet heute Gesten der Entfeindung? Wer sagt: Lasst uns aus den Gräben kommen und miteinander Fußball spielen? Wer fängt an, Brot zu werfen, statt die nächste Sanktion zu schleudern? Wer fängt an zu fraternisieren, statt das Feindbild zu pflegen? Es wäre ein Weihnachtswunder. Und man wünscht sich, dass es dann länger als zwei Tage dauert.

Michael Jürgs: Der kleine Frieden im Großen Krieg. Westfront 1914: Als Deutsche, Franzosen und Briten gemeinsam Weihnachten feierten. Das Buch wurde erstmals 2003 publiziert, die Taschenbuchausgabe ist 2018 im Pantheon-Verlag erschienen. Sie hat 352 Seiten und kostet 13 Euro.

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