An Heiligabend 1979 stirbt der Anführer der Studentenrebellion an den Spätfolgen eines Attentats. Über einen Antiparlamentarier, der zum Parlamentarismus fand.
Kolumne von Heribert Prantl
Der Name sagt den Jungen von heute nichts. Bei den Älteren klingelt da was. Und bei den Alten läuten die Glocken. Rudi Dutschke? Rudi Dutschke! Als die Achtundsechziger noch gar nicht „die Achtundsechziger“ hießen, war er schon ihr Star. Dutschke war das Gesicht der Generation, die aufbegehrte gegen den „Muff von tausend Jahren“ und gegen alles andere, das die damals Alten verkörperten. Dutschke war der Komet der Studentenrevolte, der Tribun der vergeblichen Revolution gegen den Kapitalismus – ein Hörsaal- und Demo-Prediger mit sagenhafter rhetorischer Kraft. Er war die Hassfigur der Springer-Presse, die gegen ihn hetzte, was das Zeug hielt und ihn in ihren Schlagzeilen als den „Volksfeind Nr. 1“ dämonisierte. Heute heißt die frühere Kochstraße im Berliner Stadtteil Kreuzberg, in der die Springer-Hochhäuser liegen, Rudi-Dutschke-Straße.
Eine historische Arabeske? Nostalgische Erinnerung an die frühe Führungsfigur einer revoluzzerischen Bewegung, über die dann Zeit und Zeitgeist hinweggegangen sind? Sie nannte sich APO, „Außerparlamentarische Opposition“. Dutschke war das Herz dieser Opposition, er war der Heilige der Rebellion. Vor 45 Jahren, an Heiligabend 1979, ist Rudi Dutschke im Alter von 39 Jahren gestorben – an den Spätfolgen eines Attentats. Der Rechtsextremist Josef Bachmann hatte ihm am Gründonnerstag 1968 in den Kopf geschossen. Dutschke überlebte, litt aber nach Attentat und Gehirnoperation an epileptischen Anfällen; er ertrank während eines dieser Anfälle in der Badewanne seiner Wohnung im dänischen Aarhus.
Mit unendlicher Selbstdisziplin hatte er sich nach dem Attentat wieder ins Leben zurückgearbeitet, hatte erst einmal wieder mühselig das Sprechen, Lesen und Schreiben gelernt, wieder Anschluss gefunden an seine berserkerhaft fleißigen Studien der gesamten linken Revolutionsliteratur und an seine politischen Aktivitäten. Er schrieb großmütige Briefe an seinen Attentäter – und eine Doktorarbeit über Lenin. Er reiste wieder durch die Republik, pflegte freundschaftlichen Kontakt zu den Dissidenten der DDR. Der Mann aus dem brandenburgischen Luckenwalde, dort sehr christlich aufgewachsen, sprach von deutscher Wiedervereinigung, als noch kaum jemand sonst davon sprach. Er machte Wahlkampf für die Bremer Grüne Liste, die dann die erste grüne Partei war, die in ein Landesparlament einzog.
Der Theologe Helmut Gollwitzer beschrieb ihn als einen Menschen von „vollkommener Lauterkeit“
Als am 13. Januar 1980 in der überfüllten Karlsruhe Stadthalle die grüne Bundespartei gegründet wurde, war dort symbolisch ein Stuhl freigehalten worden: für Rudi Dutschke. Er war am 3. Januar auf dem Sankt-Annen-Friedhof in Berlin-Dahlem beerdigt worden, in einem Grab, das der ehemalige evangelische Kirchentagspräsident Martin Niemöller, einst KZ-Häftling in Sachsenhausen und christlicher Widerständler gegen die Nazis, zur Verfügung gestellt hatte; das Grab war eigentlich für ihn reserviert. In seiner Grabrede beschrieb der Theologe Helmut Gollwitzer den christlich-charismatischen linken Revoluzzer als einen Menschen von „vollkommener Lauterkeit“. Zu dieser Lauterkeit gehört wohl, dass Dutschke sich von einstigen Idolen und Parolen lösen konnte: Von Ho Chi Minh zum Beispiel, dem vietnamesischen Kämpfer und Politiker, dessen Namen er und die APO auf den Demos so lustvoll skandiert hatten. Bezeichnend ist da ein Interview, das sein Biograf Ulrich Chaussy 1979 mit ihm führte und in dem es unter anderem um die Boat People ging. Dutschke bezeichnete es als obszön, dass die siegreichen Vietcong, kaum an der Macht, sich in ein konterrevolutionäres System verwandelt hätten, das das eigene Volk unterdrücke.
Die außerparlamentarische Opposition, deren geistiger Anführer Dutschke war, gilt als die chaotisch-kreative Antwort auf die erste große Koalition aus CDU/CSU und SPD, die von 1966 bis 1969 währte und der nur die FDP als Opposition gegenüberstand. Wer wissen will, was es mit der APO auf sich hatte, kann das schnell bei Google nachlesen. Er kann sich aber auch, und das ist eine Empfehlung, auf Youtube eine ARD-Sendung vom 3. Dezember 1967 anschauen, die damals eine Sensation war. Sie machte Dutschke zu einer Mediengröße und ist heute noch bemerkenswert, weil man – neben allerlei revolutionären Verblasenheiten – vernichtende Sätze über die politischen Parteien hören kann, von denen manche aus Kommentaren über das Ende der Ampelkoalition und den heutigen Bundestagswahlkampf stammen könnten.
Dutschke hielt nichts von Parteien, er träumte von der Selbstorganisation der Massen
Eine Dreiviertelstunde lang wird Dutschke vom Journalisten Günter Gaus mit sezierender Sachlichkeit interviewt. Und man spürt, wie es in dem 27-jährigen Studentenführer gärt. Der Interviewer nimmt sich zurück, er produziert sich selbst in keiner Weise, man sieht nur seinen Hinterkopf; er gibt seinem Gegenüber Gelegenheit, sich zu produzieren; Gaus hatte ja auch, anders als mancher Moderator von heute, noch keine eigene Produktionsgesellschaft. Dutschke sitzt ihm konzentriert dozierend gegenüber in einem von seiner Schwiegermutter gestrickten Ringelpullover – und gesteht seinem Befrager, dass es sich bei der außerparlamentarischen Opposition auch um eine antiparlamentarische Opposition handele. Schon in seinem seinerzeit hochgelobten Abituraufsatz am Askanischen Gymnasium 1961 in Westberlin hatte sich Dutschke darüber mokiert, dass die Parteien „gar nicht oder ganz wenig bei der politischen Willensbildung des Volkes“ mitwirken, wie es das Grundgesetz verlangt. Der Revolutionär Dutschke hielt nichts von politischen Parteien, ihren Apparaten und Berufspolitikern, er träumte von der Selbstorganisation der Massen. Über die NPD sagt er Sätze, die heute auf die AfD oder das BSW passen könnten: Die Entstehung dieser Partei sei „nicht zu trennen von dem Unbehagen über die bestehenden Parteien“.
In den letzten Jahren seines Lebens hat Dutschke von der radikalen Parteiengegnerschaft hin zur grünen Partei gefunden, die sich damals Anti-Parteien-Partei nannte. Es war dies der Weg eines Antiparlamentariers, der zum Parlamentarismus fand. Und zu einer Zivilgesellschaft, wie sie sich in den Initiativen der Umwelt- und Anti-Atom-Bewegung etablierte.
Die studentische Revolte endete wenige Jahre nach dem Attentat auf Dutschke; die RAF war eines ihrer Zerfallsprodukte. Aber der gute gesellschaftliche Wandel, die Liberalisierung und die Demokratisierung der Gesellschaft, die von den Achtundsechzigern ausging, war nicht mehr aufzuhalten. Ihre Bewegung hat unglaublich viel erreicht; aber glücklicherweise nicht ihre Ziele.
Hinweis: Diese Kolumne erschien zuerst am 23.12.2024 in der Süddeutchen Zeitung.