An diesem Freitag ist wieder Weltflüchtlingstag. Einen Tag und eine Nacht lang liest ein Aktionsbündnis in mehreren Städten vor, wie Menschen auf ihrem Weg nach Europa elend gestorben sind.
Die Reinoldikirche ist eine frühgotische Basilika im Stadtzentrum von Dortmund. Dort steht seit Montag ein Mahnmal der Menschenwürde; es besteht aus vielen Tausend Stoffstreifen. Auf jeden Streifen geschrieben ist der Name und das Schicksal eines Menschen, der auf seiner Flucht nach Europa umgekommen ist. Seit 1993 sind 66 519 Opfer dokumentiert; hinter jeder Zahl steht ein Leben, steht eine Tragödie; die Dunkelziffer beträgt wohl ein Vielfaches.
Einen Tag und eine Nacht lang liest ein Aktionsbündnis in Dortmund und in zahlreichen anderen Städten in Deutschland und der Schweiz die dürren Daten dieser Menschen vor, es sind recherchierte und belegbare Schicksale. Das Aktionsbündnis heißt „Schicksale beim Namen nennen“; aber oft kennt man den Namen der Menschen nicht einmal. Sie sind namenlos gestorben und nirgendwo beerdigt. Ihr Name lautet daher: „N.N.“ Das ist das Kürzel für das lateinische Wort „Nomen nescio / ich kenne den Namen nicht“. Man kennt nur ihre Todesursache: Sie sind gestorben an ihren Zukunftshoffnungen – ertrunken im Meer, erstickt im Lastwagen, verhungert in der Wüste. Sie haben Schutz gesucht in Europa und sind auf dem Weg dahin „zu Tode gekommen“, wie es offiziell und beschönigend heißt. Die bittere Wahrheit ist: Sie sind elend gestorben, sie sind krepiert, sie sind verreckt.
Eine 24-Stunden-Lesung, ohne Unterbrechung
Das liest sich dann so – 24 Stunden, ohne Unterbrechung: „1 N.N., gestorben an einem Stromschlag zwischen zwei aus Sarajevo kommenden Zugwaggons; Leiche auf dem Dach des Zuges im Bahnhof Bradina (Bosnien-Herzegowina) gefunden“. Oder: „1 N.N., beim Durchqueren eines minenverdächtigen Gebietes bei Saborsko in Kroatien auf eine Mine getreten“. Oder: „Drei Kinder und zwei Frauen ertrunken; vor der Küste Libyens über Bord eines Schlauchboots gestürzt, das schon Luft verloren hatte“. Oder: „29 N.N., während 18-tägiger Reise von Mauretanien zu den Kanarischen Inseln an Hunger/Durst gestorben“. Oder: „129 N.N., ertrunken; Boot vor Libyen bat zwei Tage lang um Hilfe; aber die Behörden ließen die Menschen auf See sterben“. Oder: „1 N.N., erhängt sich in der Nähe des Flusses Bidasoa an der spanisch-französischen Grenze“. Oder: „1 N.N., erfroren, als blinder Passagier im Radstand eines Flugzeugs aus Lagos/Nigeria am Flughafen Schiphol in den Niederlanden gefunden.“
Manchmal stehen Botschaften vom Überleben neben den Todesnachrichten. „Ertrunken auf dem Weg nach Italien, selbstgebautes Boot kenterte bei schlechtem Wetter, neun Leichen gefunden, sechs Menschen vermisst, 27 gerettet.“ Oder: „9 N.N., erstickt aufgefunden bei Rettungsaktion vor Lampedusa im Laderaum eines überladenen Bootes aus Libyen; 54 Personen gerettet.“ Es sind dürre Zeilen von überwältigender Wucht und befremdlicher Lapidarität: „50 N.N. (inkl. Kinder, Frau) verhungert/verdurstet, Leichen von Boot ins Meer geworfen, das 13 Tage von Nuakschott/Mauretanien nach Spanien trieb; 70 gerettet.“ Man kann diese Listen nicht einfach herunterlesen. „44 N.N. (inkl. 2 Jungen, 4 Frauen) ertrunken, Boot sank auf dem Weg von Sfax (Tunesien) nach Italien; 44 vermisst, 1 Mädchen (11) nach drei Tagen im Meer gerettet.“ Manchen derjenigen, die lesen, das ist die Erfahrung, bricht zwischendurch die Stimme weg: „11 N.N. (inkl. Kinder; Frau), ertrunken, Flugzeuge einer Rettungsorganisation entdeckten vor Zawiya (Libyen) treibende Leichen im Zustand der Verwesung.“ Und das Flüchtlingsrecht stirbt mit ihnen. Das ist die Beschreibung, wozu es führt, wenn die gesamte Migration irregularisiert und illegalisiert wird.
Der Tod wird von der herrschenden Politik sogar begrüßt
Fast alle Pläne, die in Brüssel oder in Berlin als Flüchtlingspolitik betrieben werden, dienen dem Ziel, dem Asylrecht die Rechtsqualität und dem Flüchtling den Schutz zu nehmen. Fast alles dient der noch weiteren Verschlechterung des gegenwärtigen Zustands, der schlimm genug ist. Die Zahl der Menschen, die auf dem Weg nach Europa sterben, steigt und steigt. Noch nie waren es so viele wie in den vergangenen zwei Jahren. Eben das wolle man verhindern, betonen diejenigen gern, die die Grenzen dichtmachen wollen. Allein: Sie reden nicht so, dass man ihnen das glauben kann. Sie bezeichnen Flüchtlingshilfsorganisationen wie „Pro Asyl“ als Schlepperorganisationen, reden von „Zahlen“, die „runter müssen“, von „Gefährdern“ und vom „nationalen Notstand“. Europaweit werden die Verteidiger von Menschenrechten angegriffen. Nachdem kürzlich das Berliner Verwaltungsgericht die Zurückweisung dreier somalischer Flüchtlinge an der deutschen Grenze für rechtswidrig erklärt hatte, warf der Chef der CSU-Landesgruppe im Bundestag der Organisation Pro Asyl eine „Inszenierung“ vor.
Der tausendfache Tod wird von der herrschenden Politik nicht einfach nur billigend in Kauf genommen – mehr noch: Er wird als Teil des Prinzips Abschreckung begrüßt. Zum Prinzip Abschreckung gehört auch die Kriminalisierung der Seenotrettung und die Unterstützung von Folterstaaten wie Libyen, deren Küstenwache dann, von der EU finanziert, Flüchtlingsboote rammt. Soeben wurde das zivile Rettungsschiff Sea-Eye 5 der Regensburger Seenotrettungsorganisation Sea-Eye nach Rettung von 65 Menschen im sizilianischen Hafen von Pozzallo festgesetzt.
Es ist ein Lockdown der Menschlichkeit
„Kein Land für Niemand. Abschottung eines Einwanderungslands“, heißt ein Dokumentarfilm, der gerade in den Kinos Premiere hat; er begleitet einen Rettungseinsatz auf dem Mittelmeer und erzählt die Geschichten von Überlebenden, die trotz Gewalt und tödlicher Risiken den Weg nach Deutschland gefunden haben. Der Film kritisiert die neue Linie der Zurückweisung sämtlicher Flüchtlinge an den deutschen Grenzen, er hinterfragt eine Politik, die alle Wege nach Europa zu Todesrouten und das Wort Flucht zu einem Fluch macht, indem sie die Menschen, die Schutz suchen, zwingt, ihr Leben zu riskieren. Dieser Lockdown der Menschlichkeit muss beendet werden. Flucht ist kein Verbrechen. Und Migration ist eine zivilisatorische Notwendigkeit.
Das Gedenken in deutschen und schweizerischen Städten für die verhungerten, verzweifelten und ertrunkenen Opfer ist eine Aktion zum Weltflüchtlingstag, der seit 2001 am 20. Juni begangen wird. Diese Initiative der Zivilgesellschaft beklagt das Unrecht, und sie ehrt das Leben der Toten.
Hinweis: Diese Kolumne erschien zuerst am 19.06.2025 in der Süddeutschen Zeitung.