Wofür steht der neue Kanzler? Nur für Grimms Hausmärchen oder auch für die Poetik des Aristoteles? Das entscheidet sich daran, ob Merz einen Verbotsantrag gegen die AfD wagt.

Kolumne von Heribert Prantl

„Ich war gut in Hölderlin.“ So hat der Kanzler Helmut Kohl einst im Interview sein Verhältnis zur Kultur erklärt. Über das Verhältnis seines Nach-Nach-Nachfolgers Friedrich Merz zur Kultur ist noch wenig bekannt. Da er sich einst, in seiner Vor-Merkel-Zeit, als kurzzeitiger Fraktionschef der Union im Bundestag, gern über eine „deutsche Leitkultur“ verbreitet hat und von den Migranten in Deutschland die Einordnung in diese Leitkultur gefordert hat, könnte es gut sein, dass er „gut in Grimms Hausmärchen“ ist. Es gibt jedenfalls in dieser Sammlung ein sehr eigentümliches Märchen, das von einem handelt, „der auszog, das Fürchten zu lernen“, aber dann dafür ziemlich lange braucht. Das passt irgendwie zu Merz.

Friedrich Merz hat auch lange gebraucht, um einiges andere zu lernen; und ob er die Kunst des Regierens beherrscht, muss sich erst noch zeigen, weil er, im Gegensatz zu allen bisherigen Bundeskanzlern, keinerlei Regierungserfahrung hat. Aber wie das Gruseln geht, das weiß er seit dem vergangenen Dienstag, als er völlig unerwartet bei der Kanzlerwahl im Bundestag im ersten Wahlgang scheiterte. Das Gruseln wegen dieses Malheurs, das von einigen Kommentatoren mit sehr kurzer Lunte sogleich zur Staatskrise hochgejazzt wurde, dürfte schon wenige Stunden später wieder abgeklungen sein – als Merz, mit einigen Stimmen mehr als nötig, gewählt war.

Das wirklich Gruselige ist etwas anderes. Das wirklich Gruselige sind Einfluss und Stärke des Rechtsextremismus in der Gesellschaft und in den Parlamenten. Gruseln muss es den neuen Bundeskanzler angesichts der Präsenz des alten braunen Ungeistes, der achtzig Jahre nach Kriegsende und nach der Befreiung von der Nazi-Diktatur in und mit der AfD neue Triumphe feiert. Gruseln muss es ihn, wenn migrantische Deutsche von der AfD mit sogenannten Remigrationsprogrammen bedroht werden, wenn ausländische Menschen gezwungen werden sollen, Deutschland zu verlassen, wenn von der AfD Härten bei der Durchsetzung dieser Programme und „unschöne Szenen“ angekündigt werden. Gruseln muss es Merz, wenn er sieht, wie diese AfD sowohl von Trump als auch von Putin hofiert wird, von zwei Autokraten also, die die Rechtsstaatlichkeit verachten. Gruseln muss es Merz, wenn immer wieder darüber spekuliert wird, die CDU könnte eines Tages allen gegenteiligen Erklärungen zum Trotz doch mit dieser AfD zusammenarbeiten. Solche Behauptungen könnte die Merz-CDU unterbinden, wenn sie einen Verbotsantrag gegen die AfD durchsetzen würde.

Die AfD ist eine Partei, in der rassistische Unverfrorenheit und hetzerische Reden ihre Heimat haben. Sie ist eine Partei, in der die rabiate Missachtung des Respekts und der Achtung, die jedem Menschen zustehen, zum Programm gehören. Auf Versammlungen dieser Partei wird vor Begeisterung gejohlt, wenn Nazi-Verbrechen verharmlost, Juden verhöhnt und Muslime verachtet, wenn Gemeinheiten über Flüchtlinge verbreitet werden. Die AfD-Parteivorsitzende schwelgte auf dem letzten AfD-Parteitag gar in staatsstreicherischen Tiraden. Gewiss: Diese AfD hat sichtbar und sagbar gemacht, was vorher schon da war. Aber noch nie ist der alte neue Ungeist so aufgeblasen worden, ist er so präsent, aggressiv und arrogant aufgetreten. Das umfangreiche Gutachten des Bundesamts für Verfassungsschutz hat das soeben zusammengefasst in der Bewertung: Die AfD sei „gesichert rechtsextremistisch“. Dieses Gutachten muss umgehend veröffentlicht, es muss diskutiert und reflektiert werden. Das politische Ermessen, ob die Bundesregierung, der Bundestag und/oder der Bundesrat Verbotsanträge stellen sollen, ist mit diesem Votum geschrumpft. Ob es gar auf null geschrumpft ist, das kann erst nach Publikation dieses Gutachtens gesagt werden.

Wenn die AfD Hunderttausende Menschen aus dem Land treiben will, wenn sie der Gesellschaft und der Politik die Achtung der Menschenwürde austreiben will, dann muss sie mit den Mitteln des Grundgesetzes aus den Parlamenten und aus der Politik vertrieben werden. So haben es die Mütter und Väter des Grundgesetzes, so haben es die Überlebenden der NS-Gewaltherrschaft ins Grundgesetz geschrieben. Der Artikel 21 Absatz 2 Grundgesetz, in dem das große Verbot, nämlich das Parteiverbot geregelt ist, und der Artikel 18 Grundgesetz, in dem das kleine Verbot geregelt ist und in dem es um den zeitweisen Ausschluss einzelner verfassungsfeindlicher Politiker von den Wahlen geht – diese Artikel sind Testament der Widerstandskämpfer gegen Hitler. Es trägt den Titel: „Nie wieder“.

Auswandern wegen der AfD? Diese Gedankenspiele sind längst bittere Realität für einige

Es läuft einem kalt den Rücken herunter, wenn den Menschen, die der AfD missliebig sind, sogar in einem Gerichtssaal gedroht wird: „Wenn wir dran sind, seid ihr alle weg.“ Die Schilderung einer solchen Kampfansage war 2024 der Gänsehaut-Moment bei einer Veranstaltung des Bayerischen Richtervereins und des Deutschen Richterbundes im Münchner Justizpalast. Es ist daher nicht einfach nur ein neues Gesellschaftsspiel, sondern bittere Realität, wenn im privaten Kreis, am Rande von Veranstaltungen und Einladungen, immer öfter darüber geredet wird, wohin man denn auswandern würde, wenn die AfD in Deutschland an die Regierung käme.

Einem Parteiverbot werden immer wieder die wachsenden Wahlerfolge der AfD entgegengehalten: Wenn die Partei zwanzig, dreißig oder gar noch mehr Prozent der Stimmen bekomme, dann müsse man das doch akzeptieren und respektieren, wird gesagt. So sei halt Demokratie. Ist sie wirklich so? Nein, so ist Demokratie nicht. Der Schutz der Menschenwürde steht nicht unter dem Vorbehalt von irgendwelchen Prozenten. Im Gegenteil: Je stärker eine Politik oder eine Partei ist, die die Menschenwürde angreift, desto wichtiger ist es, die Waffen der wehrhaften Demokratie zu entrosten. Ansonsten ist sie eine wehrlose Demokratie. Es ist daher höchste Zeit für die Verbotsanträge.

Der Verbotsantrag ist das, was in der Poetik des Aristoteles, in seiner Tragödientheorie, die Katharsis, also die Läuterung ist. Das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht kann, wenn es gut geht, zu vertiefter Einsicht über die Grundwerte der Demokratie führen: Sie ist mehr als eine Abstimmungsgemeinschaft. Sie ist eine Wertegemeinschaft. Der Verbotsantrag stärkt diese Werte.

Hinweis: Diese Kolumne erschien zuerst am 08.05.2025 in der Süddeutschen Zeitung.