Der Bundestag sollte keine Angst vor den Bürgerinnen und Bürgern haben. Elemente direkter Demokratie können in der richtigen Dosierung befriedend wirken.
Seine Kolleginnen und Kollegen im Bundestag werden ihn nicht dafür feiern: Bodo Ramelow, der frühere Ministerpräsident von Thüringen und jetzige Vizepräsident des Parlaments, hat in einem Interview mehr Demokratie und „mehr Volksabstimmungen“ gefordert: „Die panische Angst, dass eine Volksabstimmung schlechte Stimmung auslösen könnte“, so meinte er in der Tageszeitung Die Welt, „führt dazu, dass die schlechte Stimmung immer schlechter wird. Ich sage: mehr Mut.“ Diesen Mut verlangt auch das Grundgesetz. Dort steht nämlich: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen (…) ausgeübt.“ Solche Abstimmungen gibt es jedoch auf Bundesebene nicht. „Leider“, sagen die einen. „Gott sei Dank“, sagen die anderen. Ich schätze die Chancen höher als die Gefahren. Eine Demokratie, die sich selber ernst nimmt, darf die Bürgerinnen und Bürger nicht als notwendiges Übel betrachten.
Das politische System in Deutschland braucht zu seiner Neubelebung eine Ergänzung: Es braucht zumindest eine Prise direkter Demokratie – nicht nur auf Landesebene, wo das schon in den Verfassungen steht, sondern auch auf Bundesebene. Wer das fordert, erhält einen Aufschrei als Antwort: „Bist du wahnsinnig? Willst du die Demokratie der Straße, dem Internet, willst du sie Tiktok ausliefern? Schau doch nach Großbritannien, dort ist der Austritt aus der EU auf diese Weise inszeniert und bewerkstelligt worden!“ Angerührt und angerichtet hat dieses Desaster freilich nicht eine Volksinitiative, sondern die Feigheit des damaligen britischen Premiers David Cameron, der die Volksabstimmung als Instrument nutzen wollte, um parteiinterne Konflikte zu lösen und seine Machtbasis zu sichern.
Carlo Schmid glaubte daran: Der Mensch hat nicht nur alle paar Jahre einen lichten Augenblick
Elemente direkter Demokratie: Ihre Befürworter haben einen prominenten Streitgenossen – Carlo Schmid. Von den Gründungsmüttern und Gründungsvätern unseres Landes verehre ich vor allem ihn. Ich mag ihn bereits für seine Verdammung von „Mahlzeit“ als Mittagsgruß. Ich verehre Carlo Schmid aber vor allem deshalb, weil er für ein zivilgesellschaftliches Menschenbild steht. Es gibt dazu eine anschauliche Geschichte aus den Gründungstagen der Bundesrepublik: Als Konrad Adenauer und Carlo Schmid sich am 1. September 1948 in Bonn kennenlernten, kurz vor dem Beginn der Grundgesetz-Beratungen des Parlamentarischen Rates, schloss Adenauer das Gespräch so: „Was uns beide unterscheidet, ist nicht nur das Alter.“ Die beiden trennte ein Altersunterschied von fast 21 Jahren. „Es ist noch etwas anderes“, so meinte Adenauer: „Sie glauben an den Menschen, ich glaube nicht an ihn, und habe nie an den Menschen geglaubt.“ Noch nach Jahren hat Adenauer den Sozialdemokraten bei Empfängen in eine Ecke gezogen und gefragt: „Glauben Sie immer noch an den Menschen?“ Carlo Schmid tat es; er glaubte an den Menschen. Er ging nicht davon aus, dass der Mensch nur alle paar Jahre einen lichten Augenblick hat – nämlich immer dann, wenn gewählt wird.
Es gilt, beim Thema Plebiszit mit zwei Märchen aufzuräumen. Märchen eins: Die Weimarer Republik sei an ständigen Volksabstimmungen gescheitert. Märchen zwei: Volksabstimmungen hätten stets eine reaktionäre Schlagseite. Beides ist falsch. Erstens: Weimar ist an der Unfähigkeit der Parteien gescheitert und daran, dass es zu wenig mündige Demokraten gab. Plebiszite gab es ohnehin nur drei. Und nicht Bürger, sondern Parlamentarier haben dem Ermächtigungsgesetz Hitlers zugestimmt, unter ihnen sogar der spätere Bundespräsident Theodor Heuss, von dem der Satz stammt, Plebiszite seien eine Prämie für Demagogen. Zweitens: Plebiszite gehen nicht immer übel aus. In der Schweiz wurde auf diese Weise der Umweltschutz schon 1971 in die Verfassung geschrieben, in Deutschland erst 1994.
Plebiszite: Zaubertrank oder Gift? Bei richtiger Dosierung Medizin!
Volksabstimmungen sind kein Zaubertrank, sie können auch Gift sein; man muss sich daher Indikation und Dosierung gut überlegen. Dann sind sie Medizin. Man darf sich aber nicht von Extremisten ins Bockshorn jagen und vom Plebiszit ganz abhalten lassen, nur weil die es missbrauchen wollen. Das Volk gilt vielen Profi-Politikern, ohne dass man das laut sagt, als „zu dumm“ für Sachentscheidungen. Es fragt sich freilich, ob Plebiszite, gut und sparsam dosiert, nicht ein Rezept gegen diese angebliche Dummheit sein könnten. Die frühere Bundesverfassungsrichterin Gertrude Lübbe-Wolff hat das in ihrem Buch „Demophobie“ beschrieben: Der Bürgersinn, die Bürgerkompetenz und das Niveau der politischen Kommunikation könnten zunehmen.
Ralf-Uwe Beck vom Verein „Mehr Demokratie“ nennt plebiszitäre Elemente ein „Frustschutzmittel“. Das ist schön gesagt und gedacht. Hätte es ein Plebiszit nach der Deutschen Einheit gegeben, hätte man damals Elemente der direkten Demokratie eingeführt, dann gäbe es vielleicht keine AfD – weil es ein Ventil gegeben hätte, das außerhalb der Wahlen funktioniert; es wäre dann nicht so viel Druck entstanden. Auf der Ebene der Bundesländer gibt es Volksabstimmungen – und da zeigt es sich, dass solche Abstimmungen befriedend wirken. Im Übrigen: Das Bundesverfassungsgericht wacht auch über Gesetze, die vom Volk beschlossen werden.
„Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen“, soll Martin Luther einst gesagt haben. Nachweisen lässt sich der Satz nicht; wahrscheinlich wurde er dem Reformator nach dem Zweiten Weltkrieg, in einer Zeit, die zwischen Hoffnung und Verzweiflung schwankte, in den Mund gelegt. Man mag sich die damals gegründete bundesrepublikanische Demokratie als ein solches Apfelbäumchen vorstellen: vor 76 Jahren eingepflanzt, jetzt ein stattlicher Baum, eigentlich ganz gut gewachsen, aber knorrig und krankheitsanfällig; nicht jeder ist mehr mit der Fruchtqualität zufrieden.
Ich greife gern zu diesem Apfelbaumvergleich – denn: Beim Baum überlegt der Obstgärtner dann, wie er ihn verbessern kann. Er pfropft dem Baum neue Zweige ein, „Edelreiser“ nennt er sie. Wenn er das ordentlich macht, trägt der Baum ein paar Jahre später neue Früchte, die Ernte wird besser. Die repräsentative Demokratie braucht solche Edelreiser. Nach 76 Jahren Parlamentarismus in der Bundesrepublik ist es richtig, wichtig und klug, die einschlägige Forderung des Grundgesetzes zu erfüllen: „Alle Staatsgewalt (…) wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen (…) ausgeübt.“ Solche Abstimmungen sind Muntermacher für die Werte der Demokratie.
Hinweis: Diese Kolumne erschien zuerst am 10.07.2025 in der Süddeutschen Zeitung.