Depression ist wie ein nicht aufhörender Karfreitag. Sein Unglück nicht zu verstecken, über die Depression reden zu können, statt sie zu verschweigen, das ist etwas Österliches – als würde man den Stein vom Grab wegrollen. Der Suizid des Torwarts Robert Enke vor 15 Jahren hat viel ins Rollen gebracht. Prominente machten ihre Depression öffentlich. Das half nicht nur ihnen persönlich, es half auch, die Stigmatisierung psychischer Krankheiten abzubauen. Immer ist es für Betroffene eine große Überwindung, über ihr seelisches Leiden zu reden. Aber es gibt seit einigen Jahren parallel eine andere Entwicklung, und der geht die österreichische Soziologin Laura Wiesböck in ihrem luziden Buch „Digitale Diagnosen“ nach: Trauma und Trigger sind Trend, Happiness und Healing sind Hype. Die Psychologisierung des Privaten und des Gesellschaftlichen boomt.

Wiesböck geht mit Ihren Leserinnen und Lesern im Netz spazieren und der Popularisierung und Banalisierung psychiatrischer Diagnosen auf den Grund. Sie besucht Influencerinnen, die ihre Tränen ins Schaufenster stellen und sexy aufmachen (interessanterweise durchweg gut aussehende, wohlsituierte, weiße Frauen), und sie besucht Mental-Health-Coaches mit Schmalspurausbildung, die den Weg zur Heilung erklären, Wege zur Selbstdiagnose aufzeigen und Gefühlsmanagement zum Geschäftsmodell entwickeln. Wiesböck sieht durchaus das Positive, das dieser Social-Media-Trend bewirkt: die Enttabuisierung von psychischen Leiden und, wenn es gut geht, eine ad-hoc-Hilfe für diejenigen, die sich nicht trauen oder nicht die finanziellen Mittel haben, sich ärztlichen Rat zu holen. Wiesböcks Buch ist eine empathische Parteinahme für verletzte, oftmals junge Menschen, die sich nicht zu helfen wissen in ihren Lebensungewissheiten. Zugleich ist es ein kritischer Blick auf einen gesellschaftlichen Trend, der Leid, Traurigkeit, Unglück, Niedergeschlagenheit nicht als etwas versteht, was zum Leben gehört, sondern als etwas Behandlungsbedürftiges. Die Vorstellung, dies durch Selbstoptimierung aus der Welt zu schaffen, führt zu etwas Merkwürdigem: Unglück fühlt sich an wie persönliches Versagen, und Glück wie eine Pflichtübung.

Wiesböcks kluges Buch ist ein Plädoyer gegen die Wegrationalisierung der negativen Gefühle und gegen die Rationalisierung von Menschlichkeit. Trauer ist keine Krankheit. Trost ist keine Dienstleistung. Niedergeschlagenheit ist keine Betriebsstörung. Freundschaft ist nicht im do ut des. Schmerz ist kein Störfall. Wohlbefinden ist keine Ressource. Solidarität ist kein Investment. Sie sind Leben. Eine österliche Einsicht.

Laura Wiesböck: Digitale Diagnosen. Psychische Gesundheit als Social-Media-Trend. Das Buch ist kürzlich im Zsolnay-Verlag erschienen, hat 176 Seiten und kostet 22 Euro.