Warum erst jetzt? Wer dieses Buch gelesen hat, wird das unvermeidlich fragen: Warum hat so viele Jahrzehnte gedauert? Warum hat es so lange gedauert, bis einige der unzähligen schriftlichen Erinnerungen deutschsprachiger jüdischer Menschen vor dem Vergessen bewahrt wurden? Schriftstellerinnen und Schriftsteller führen sie in diesem Buch mit zweiundzwanzig „Stolpertexten“ endlich vor Augen. Ihnen ist etwas Großes gelungen: Sie verwandeln die Lebensspuren, die im Archiv des Leo-Baeck-Instituts konserviert worden sind, in lebendige Geschichten.
Bisher gab es Stolpersteine. Jetzt gibt es auch Stolpertexte. Die kleinen Gedenksteine, die Stolpersteine, erinnern die an die letzten frei gewählten Wohnorte von NS-Opfern, sie geben den Menschen ihre Namen zurück, ihre Geburts- und Sterbedaten. Die jetzt erschienen „Stolpertexte“, von Schriftstellerinnen und Schriftstellern verfertigt, führen die Leser in die Lebensorte der Ermordeten und Verfolgten zurück. Es sind Reisen in das Deutschland der Dreißigerjahre und Länder, in die es die Verfolgten und deren Angehörige verschlagen hat.
Juli Zeh schreibt einen „Stolpertext für Edith Hillinger“. Es ist ein Text, in dem der Mohn eine große Rolle spielt. Die Brieselanger Mohnblumen gehören zu den frühesten Kindheitserinnerungen der Malerin Edith Hillinger, die heute 91 Jahre alt ist und in Kalifornien lebt. Mohnblumen haben die Tochter eines jüdischen Architekten ihr Leben lang begleitet – als Mädchen, wenn sie aus Berlin heraus zu ihren Großeltern auf der Brieselanger Farm vor den Toren Berlins gefahren ist, in späteren Kindheits- und Jugendjahren nach der Vertreibung der Familie in die Türkei, nach Istanbul. Die Hügel entlang des Bosporus waren damals kaum bebaut. Alles war dem Mädchen fremd, die Sprache, die Küche, die Gewohnheiten. Der knallrote Mohn aber wurde für Edith Hillinger zur Brücke, die das alte und das neue Leben verband. Blumen sind ihre Lebensbegleiter, ihr Zugang zur Kunst. Suche man ihre Werke im Netz, schreibt Zeh, falle sofort auf, dass ein Motiv ständig wiederkehre: „Poppy Petals in Wasserfarben, Tinte, Aquarell oder als Collage. Poppy Petals sind Mohnblumenblätter.“
Jedes Leben, von dem die „Stolpertexte“ erzählen, hätte eine ausführlichere Darstellung verdient. Die Herausgeber haben die Länge offenbar auf fünf bis sechs Seiten beschränkt. Das ist in einigen Fällen ein spürbarer Mangel. Olga Grjasnowa beschreibt in ihrem „Stolpertext für Ernst Feder“ einen Augenblick der Flucht Feders in Marseille unmittelbar vor der Abreise nach Brasilien. Feder war einer der wichtigsten Journalisten der Weimarer Republik und wurde im brasilianischen Exil einer der engsten Vertrauten Stefan Zweigs. Darüber würde man gerne ein wenig mehr erfahren. Die Herausgeber heben hervor, die an diesem kleinen großen Buch beteiligten Schriftsteller hätten jüdische Lebensspuren in Erinnerung verwandelt. Das ist wichtig in einer Zeit, in der der anschwellende Antisemitismus die Erinnerung bekämpft und das Vergessen und Verfälschen forciert. Die Lektüre provoziert nicht nur die Frage: „Warum erst jetzt?“. Die nächste Frage lautet: „Wann erscheint der zweite Band?“.
Stolpertexte – Literatur gegen das Vergessen. Erschienen im Leo Baeck Institut New York/Berlin 2024, 165 Seiten, 19 Euro