Das Grundgesetz hält die Instrumente für den Einsatz gegen Verfassungsfeinde bereit, aber die demokratischen Parteien nutzen sie nicht. Der Bundespräsident steht daher vor einer großen Aufgabe.

Frank-Walter Steinmeier ist ein Bundespräsident, dem die Mitwelt keine Kränze flicht. Er gilt als einer, der das höchste Amt im Staat gut verwaltet, aber nicht prägend gestaltet; er gilt als einer, der sich zu wenig traut; als einer, der lieber im Strom schwimmt als dagegen. Er gilt nicht als mitreißender Redner, er gilt manchen gar als langweilig. Aber das ist falsch. Er gehört zu den Präsidenten, die tiefgründige, geschichtsmächtige Reden gehalten haben. Man darf den zwölften Bundespräsidenten da neben Gustav Heinemann, den dritten, und neben Richard von Weizsäcker, den sechsten Präsidenten, stellen. Aber: Steinmeier hat nicht deren Charisma; das liegt daran, dass ihm eine Eigenschaft fehlt, die dafür wichtig ist: Ihm fehlt der Mut, anstößig zu sein. Er hat nun noch eineinhalb Jahre Zeit dafür.

Steinmeier muss zeigen, dass er für die streitbare Demokratie steht – gerade dann, wenn es sonst keiner tut. Die demokratischen Parteien der Bundesrepublik gehen bisher dem Streit aus dem Weg, für den das Grundgesetz in den Artikeln 18 und 21 Absatz 2 den Weg weist. Aber der Bundespräsident ist da bisher kein Wegweiser. Er sollte es sein. Stattdessen sagt er, was man so sagt, wenn man nichts sagen will: In Interviews plädiert er, wenn es um ein AfD-Verbot geht, für „sorgsame Abwägung“. Ansonsten sagt er zu den Verfassungsinstrumenten gegen Rechtsextremisten gar nichts. Im Bundestag und in fast allen Landtagen sitzen Neonazis. Artikel 18 ermöglicht es, braunen Verfassungsfeinden ein politisches Aktionsverbot zu erteilen, ihnen das passive und das aktive Wahlrecht zu entziehen. Und: Artikel 21 Absatz 2 ermöglicht das Verbot einer Partei, die völkischen Nationalismus predigt und gegen Minderheiten hetzt. Im Bundestag sitzt eine solche Partei als zweitstärkste Fraktion.

Das Wort „Verteidigungstüchtigkeit“ gilt auch für die Innenpolitik

Entscheiden muss über solche Verbote das Bundesverfassungsgericht; die Anträge dazu müssen der Bundestag, die Bundesregierung oder der Bundesrat beziehungsweise eine Landesregierung (im Fall des Artikels 18) stellen. Der Bundespräsident ist nicht antragsberechtigt. Aber er ist der Anwalt des wehrhaften Staates. Er weiß, dass die Menschenwürde nicht unter dem Vorbehalt eines Wahlergebnisses steht – und sei dieses noch so spektakulär. Die demokratischen Parteien knicken ein vor der Wucht der Prozente, die die AfD derzeit erringt. Sie haben Angst vor deren Wählerinnen und Wählern. Steinmeier darf diese Angst nicht haben. Er kann und muss mutig sein, in seiner zweiten Amtszeit erst recht. Er ist kraft Amtes der Anwalt des wehrhaften Staates.

Dazu braucht er nicht, nach dem Vorbild des römischen Senators Cato, jede seiner Reden mit dem Satz „Ceterum censeo AfD esse vetandam“ beenden; „vetare“ ist das lateinische Wort für verbieten. Aber er darf sich in seinen Reden nicht davor drücken, deutlich zu machen, wie streitbar eine rechtsstaatliche Demokratie sein muss und was daraus folgt. Die 75. Jahrfeier des Grundgesetzes ist vorbeigegangen, ohne dass sich eine der Festreden über die Wehrhaftigkeit vertiefte Gedanken gemacht hätte. Das Nachdenken über „Verteidigungstüchtigkeit“ hört derzeit mit der Außenpolitik auf und wird dort bisweilen gar zum Wort „Kriegstüchtigkeit“ aufgerüstet. Die deutsche Demokratie aber ist aktuell, greifbar und brachial im Inneren bedroht.

Wie das Vermächtnis von Gerhart Baum lautet

„Besinnt Euch!“, hat Gerhart Baum, der frühere Bundesinnenminister der FDP, eine der prägenden Persönlichkeiten der Bundesrepublik, über sein politisches Testament geschrieben; er ist im Februar mit 92 Jahren gestorben. In seinem Vermächtnis schreibt er über das Parteiverbot nach Artikel 21 und über die Grundrechtsverwirkung nach Artikel 18: „Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben sich etwas dabei gedacht.“ Da hat Baum gewiss recht. Die Schöpfer der Verfassung wären beim Blick auf die Wahlergebnisse, beim Blick in die Parlamente, in denen so viele braune und halb braune Abgeordnete sitzen, verwundert, entsetzt und verwundet: Die Regeln der wehrhaften Demokratie seien doch nicht für die politische Theorie, sondern für die Praxis geschaffen worden … Diese Regeln sind die mahnende Hinterlassenschaft der Widerständler, die die Naziherrschaft überlebt hatten.

Soeben jährte sich das Ende des ersten Auschwitzprozesses in Frankfurt: Vor sechzig Jahren, am 19. und 20. August 1965, wurden dort nach 183 Verhandlungstagen die Urteile gesprochen. Es war dies der erste große Versuch einer juristischen Aufarbeitung des Holocaust. Diese Versuche waren defizitär, die Strafen zum Teil „Streichelstrafen für Mörder-Nazis“, wie der Philosoph Ernst Bloch kommentierte. Aber die verhängten Strafen waren vielleicht gar nicht von entscheidender Bedeutung. Von Bedeutung war der Blick in die Hölle und dessen Dokumentation. Diesen Blick hatte der Generalstaatsanwalt Fritz Bauer erzwungen. Er ist ein Beispiel dafür, was ein zivilcouragierter Einzelner vermag.

Andere Täter, dasselbe Böse

Zum 75. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz hielt Bundespräsident Steinmeier in der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem eine bewegende und historische Rede. Er sagte unter anderem: „Ich wünschte, sagen zu können: Wir Deutsche haben für immer aus der Geschichte gelernt.“ Das konnte er nicht, weil sich Hass und Hetze in Deutschland ausbreiten, weil die Hasser und die Hetzer sogar in den Parlamenten sitzen. Und dann setzte Steinmeier fort: „Aber manchmal scheint es mir, als verstünden wir die Vergangenheit besser als die Gegenwart.“ Diese Gegenwart, in der sich der Rassismus, der Antisemitismus, die Hetze gegen Minderheiten, die Menschenverachtung und die Vertreibungsgelüste wieder breitmachen, als wäre nichts geschehen – diese Gegenwart beschrieb er schonungslos: „Es sind nicht dieselben Täter. Aber es ist dasselbe Böse.“

Es ist ein Abgeordneter der AfD, der schreibt: „Wir werden Ausländer in ihre Heimat zurückführen. Millionenfach. Das ist kein Geheimplan. Das ist ein Versprechen.“ Es ist ein Abgeordneter der AfD, der das Holocaust-Mahnmal in Berlin als „Schande“ bezeichnet. Es sind Abgeordnete der AfD, die die Waffen-SS verteidigen und sich als das „freundliche Gesicht des Nationalsozialismus“ bezeichnen. Und es ist der Bundespräsident, der sich selber ernst nehmen muss: „Es sind nicht dieselben Täter. Aber es ist dasselbe Böse.“

Hinweis: Diese Kolumne erschien zuerst am 21.08.2025 in der Süddeutschen Zeitung.