Gehört der Vater zur Mörderbande aus den Ministerien, ist er auch ein „Pinkel in gestreiften Hosen, nicht weniger schuldig als die, die den Toten in Treblinka noch die Zähne herausbrechen ließen“? So sieht die Anklage Ernst von Weizsäcker, Chefdiplomat des Nazi-Außenministers Ribbentrop, SS-Mitglied. Verbrechen gegen die Menschlichkeit wirft ihm die Anklage in den Nürnberger Prozessen vor. Ist der Vater so einer? Oder verhält es sich so, wie es die Süddeutsche Zeitung einst meinte, nämlich dass Ernst von Weizsäcker erst dadurch, dass er an maßgeblicher Stelle stand und alle Pläne der Naziführung kannte, verdeckten Widerstand leisten konnte? Ernst von Weizsäcker bestand darauf, er habe einen „Total-Widerstand“ geleistet. Und die schriftlichen Erklärungen über seine Integrität, unter anderem von Werner Heisenberg, Erika Canaris und Karl Barth, füllen ganze Dokumentenbücher. Soll man mit dem Teufel zusammenarbeiten, um ihm das Handwerk zu legen? Darf man das? Kann man das überhaupt? Kann jemand die Taten des Vaters verstehen, der jenseits der Akten nicht sein Wesen kennt?
Das sind die Fragen, die den Sohn Richard von Weizsäcker, 27 Jahre alt, Jurastudent, umtreiben, als er 1947 Assistent von Rechtsanwalt Hellmut Becker wird, um sich an der Verteidigung seines Vaters zu beteiligen. Fridolin Schley fühlt sich in seinem Roman „Die Verteidigung“ in den inneren Konflikt des Sohnes ein, der seinen Vater im Prozess vertritt, „in Umkehrung der Hilfs- und Schutzpflicht zwischen Eltern und Kindern“, wie sein Vater später schreibt. Dessen Uneinsichtigkeit in die eigene Verstrickung bringt den Leser manchmal an die Schmerzgrenze. Trotzdem entgeht der Autor der Versuchung, sich an der Perspektive des Überlegenen zu ergötzen oder siebengescheite Schuldklischees übers Mitmachen und Mitlaufen breitzutreten. Es ist dies kein historischer, wohl aber ein historisch gründlich recherchierter, ein feinsinniger und intelligenter Roman, der seine Leser sensibel sowie mit hohem Respekt vor dem ehemaligen Bundespräsidenten mitnimmt in dessen inneres Zwiegespräch und innere Zwiespältigkeiten über Schuld und Gerechtigkeit, Verantwortung und Pflicht, Wahrheit und Lebenslüge. Richard von Weizsäcker hat sich zeitlebens nie öffentlich über seine Erfahrungen im Prozess geäußert. Für Fridolin Schley war diese Leerstelle eine Chance. Er hat sie gut genutzt.
Fridolin Schley: Die Verteidigung. Der Roman ist 2021 erschienen bei Hanser-Literaturverlage, er hat 272 Seiten und kostet 24 Euro.