Frieden ohne Worte kann es nicht geben. Kontakt zu den Gegnern ist daher zu begrüßen, egal, wie verfahren die Situation ist.

 

Kolumne von Heribert Prantl

In meinen frühen Journalistenjahren habe ich bei der Verleihung des Aachener Friedenspreises die Laudatio halten dürfen. Preisträger damals, im Jahr 1997, war der israelische Publizist, Politiker und Friedensaktivist Uri Avnery. Er warb mit aller Inbrunst und mit zorniger Weisheit für Frieden im Nahen Osten, für gegenseitigen Gewaltverzicht, für den Abzug Israels aus den besetzten Gebieten; er warb für das Recht der Palästinenser auf einen eigenen Staat und für Jerusalem als gemeinsame Hauptstadt. Das ist lange her, und der Frieden im Nahen Osten ist noch viel weiter weg als damals: Das Papier der alten Friedensabkommen ist vergilbt; der Friedensnobelpreis für den israelischen Premier Jitzchak Rabin, seinen Außenminister Schimon Peres und für den damaligen Palästinenserführer Jassir Arafat ist Geschichte. Uri Avnery ist tot, und die von ihm gegründete Friedensbewegung Gusch Schalom ist alt und kraftlos geworden.

Gleichwohl: Bei den bitteren Nachrichten von heute, bei den Schreckensmeldungen aus Gaza und aus der Ukraine, kommt mir immer wieder ein Satz in den Sinn, den Avnery damals so leidenschaftlich zitierte: Er war das Motto des 1995 von einem jüdischen Fanatiker ermordeten Rabin: „Verhandlungen führen, als gäbe es keinen Terror. Und den Terror bekämpfen, als gäbe es keine Verhandlungen.“ Benjamin Netanjahu, der israelische Premier, kann mit dieser Dialektik nichts anfangen; er kann das in der Gegenwart nicht, und er konnte es schon 1997 nicht, als Avnery diesen Satz beschwor. Netanjahu war damals zum ersten Mal israelischer Ministerpräsident. Er hat sich in seinen weiteren Amtszeiten weiter radikalisiert: Netanjahu verhandelt nicht, er vernichtet. Er vernichtet das Leben von unschuldigen Männern, Frauen und Kindern in Gaza, er vernichtet das Leben von israelischen Geiseln, er vernichtet die moralische Grundlage, von der der Staat Israel lebt – und er zerstört das Vertrauen der eigenen Bevölkerung. Wie soll da Frieden werden?

Es gibt auch eine psychologische Friedensführung

Wie soll Frieden werden im Nahen Osten? Und wie soll Frieden werden in der Ukraine? Nicht mit einfachen Antworten. Aber auch nicht ohne die einfachen Worte. Es geht einfach nicht ohne das Gespräch, ohne das Miteinander-Reden. Es geht nicht ohne das Gespräch der Spitzenpolitiker der beiden Seiten, es geht nicht ohne Verhandlungen – am besten eingebettet in ein mediatorisches Setting, bei dem die Pathologie des kriegerischen Wettlaufs in eine Therapie mündet. Diese Therapie beginnt mit dem Ende der verbalen Aufrüstung, sie beginnt damit, dass die Schmähungen des jeweiligen Gegners zurückgestellt werden. Man darf wohl Putin nicht andauernd zeigen, dass man ihn für einen Verbrecher hält – auch wenn er einer ist. Das gehört zur psychologischen Friedensführung. Die Therapie könnte im Verhältnis zu Russland auch damit eingeleitet werden, dass nicht die weitere Verschärfung von Sanktionen angedroht wird für den Fall, dass Putin sich nicht auf eine Waffenruhe einlässt, sondern dass ihm die Aufhebung von Sanktionen als Verhandlungsmasse angeboten wird.

Es geht nicht ohne das Gespräch der verantwortlichen Politiker. Es geht nicht ohne das Gespräch der Zivilgesellschaften. Darauf beharrten all diejenigen, die festhielten am Dialog auch da, wo er kaum mehr möglich zu sein schien. Da sind Schriftsteller aus verfeindeten Völkern, die in intensivem schreiberischen Austausch stehen so wie einst Romain Rolland und Stefan Zweig im Ersten Weltkrieg. Da sind israelisch-palästinensische Friedensprojekte, die weitermachen mit ihrer Arbeit trotz allen Terrors. Da sind Städtepartnerschaften. Exemplarisch für eine befreiende Dialogarbeit ist die Korrespondenz zwischen dem Orientalisten und muslimischen Deutsch-Iraner Navid Kermani und dem Soziologen und jüdischen Israeli Natan Sznaider. In einem gemeinsamen Büchlein stellen sie fest: „Wir erinnerten uns an die wirklichkeitsschaffende Kraft der Gewalt, die nur noch Schmerz und Trauer hinterlässt, aber auch daran, dass man selbst in der Sprachlosigkeit noch sprechen kann, und sei es ohne Worte. Sei es nur, dass man den anderen atmen hört.“

Wann wird aus dem Atmen ein Aufatmen? Gewiss nicht einfach dann, wenn man, wie es der SPD-Politiker Ralf Stegner (samt einigen anderen Politikern von SPD und CDU) getan hat, nach Baku fliegt, um dort in Aserbaidschan mit Kreml-Leuten über die Zukunft des „Petersberger Dialogs“ zu reden; dieser Dialog war 2001 vom Kanzler Schröder und dem Präsidenten Putin ins Leben gerufen und dann wegen dessen Kriegspolitik eingestellt worden. Solche informellen Kontakte können, wie Rolf Mützenich, der frühere SPD-Fraktionschef, sagt, dazu dienen, spätere formelle Gespräche vorzubereiten. Es ist unfair, wenn Kritiker von einer „Aufwertung der russischen Kriegstreiber“ reden, wenn die FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann gar fordert, den Abgeordneten Stegner aus der Parlamentarischen Kontrollkommission, die für die Geheimdienstaufsicht zuständig ist, hinauszukegeln.

Der Versuch, Brücken zu bauen, ist besser, als Brücken abzubrechen

Bei dieser Kritik wird so getan, als gäbe es eine Kontaktschuld. Das ist ein Begriff, der zuletzt in den unseligen Zeiten des Radikalenerlasses eine große Rolle spielte. Schon viel früher, in der Frühzeit des Kalten Krieges, war der große Theologe und Kirchenpräsident Martin Niemöller von Kanzler Adenauer mit dem Satz abgekanzelt worden, es sei „tief bedauerlich, dass ein Deutscher seiner Regierung in den Rücken fällt“. Niemöller hatte den russisch-orthodoxen Patriarchen in Moskau besucht: Kontaktschuld! Dem pazifistischen CDU-Politiker Wilhelm Elfes wurde seinerzeit kein Reisepass ausgestellt, wie er damals für alle Auslandsreisen notwendig war. Begründung: Kontaktschuld! Elfes pflegte nämlich Kontakte in die Sowjetunion.

Wer heute mit dem Kontaktschuld-Argument arbeitet, betreibt eine Politik der anhaltenden Verfeindung. Friedenspolitik muss nach Entfeindung trachten. Der hilfreiche oder auch hilflose Versuch, Brücken zu bauen, ist besser als das Brückenbrechen. Der Versuch, Kontakte auch in schwierigsten Zeiten zu halten, ist besser als eisiges Schweigen. Eisiges Schweigen bewirkt, dass Konflikte ungelöst bleiben. Wer mit der Lösung beginnen will, muss das Schweigen brechen.

Hinweis: Diese Kolumne erschien zuerst am 15.05.2025 in der Süddeutschen Zeitung.