Der Ruhm des Romanciers George Orwell ist bis heute nicht verblasst. Das liegt nicht nur an der literarischen Qualität von „Farm der Tiere“ und „1984“. Die beiden Dystopien haben von ihrer Aktualität nichts eingebüßt. Das gilt besonders für „1984“, Orwells beklemmende Analyse des Totalitarismus, die 1949 erschien, sieben Monate vor dem Tod des Autors im Alter von 46 Jahren. Die deutschen Verlage haben in diesem Jahr zahlreiche Neuübersetzungen auf den Markt gebracht, herausragend ist die Ausgabe bei dtv in der Übersetzung von Lutz-W. Wolff mit einem klugen Vorwort Robert Habecks.

Vergessen aber ist der große Reporter George Orwell, der 1945 im Auftrag der britischen Sonntagszeitung Observer schon wenige Monate vor dem Ende des Weltkriegs nach Deutschland kam – in der Redaktion arbeitete damals auch der deutsche Emigrant Sebastian Haffner. Orwells literarische Reportagen über das zerstörte Land sind kleine Meisterwerke, analytisch, nüchtern, hellsichtig. Der Beck-Verlag bietet sie jetzt deutschen Lesern an; erneut in fabelhafter Übersetzung von Lutz-W. Wolff und mit einem kenntnisreichen Nachwort Volker Ulrichs.

1945 war Köln zu 64 Prozent zerstört, 90 Prozent der Einwohner waren umgekommen, geflohen oder evakuiert. Als Orwell im März 1945 die Stadt besichtigt, ist er erschüttert, aber er vermeidet das Pathos der Betroffenheit. Umso stärker ist der Eindruck, den seine Darstellung bei den Lesern hinterlässt: „Das Zentrum, das einmal berühmt für seine romanischen Kirchen und seine Museen war, ist nur noch ein Chaos von gezackten Ruinen, umgestürzten Straßenbahnen und riesigen Trümmerbergen, aus denen wie Rhabarberstangen rostige Stahlträger herausragen.“

Als er in das ebenfalls fast vollkommen zerstörte Nürnberg kommt, bemerkt er den phantastischen Kontrast zwischen der ausgebombten „Stadt der Reichsparteitage“ und dem von den Verwüstungen verschonten Leben auf dem Land: „Wenn man durch diese friedliche Landschaft mit ihren gewundenen, von Kirschbäumen gesäumten Straßen, den terrassierten Weinbergen und Bildstöcken fährt, erhebt sich immer wieder dieselbe Frage: Im welchem Maße können diese einfachen, offenbar harmlosen Bauern, die sonntags in ehrbarem Schwarz zur Kirche gehen, für den Horror der Nazis verantwortlich sein?“

Orwell beantwortet die Frage nicht, er urteilt nicht, und er verurteilt nicht – er schaut, und was er sieht, zeigt er den Lesern. Die Bilder, die in Orwells Reportagen entstehen, sind gestochen scharf, Momentaufnahmen im Frühjahr 1945, bis heute eindringliche Berichte eines klugen Beobachters.

George Orwell, Reise durch Ruinen – Reportagen aus Deutschland und Österreich 1945, C.H.Beck textura, 109 S., 16 Euro, München 2021

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