Fünf Jahre nach dem ersten Covid-Fall in Deutschland gibt es noch immer keine Aufarbeitung der Krise. Was war richtig, was war schlecht? Und was unverzeihlich? Für einen Frieden in der Gesellschaft müssten darauf endlich Antworten gefunden werden.
Kolumne von Heribert Prantl
Nachher ist man immer schlauer. Das ist so. Gerade deshalb wäre es wichtig gewesen, dass man sich mit dieser Schläue an die Arbeit gemacht hätte. Das ist nicht geschehen. Immerhin: Es gab eine Enquete-Kommission im Landtag von Baden-Württemberg. Und es gab einen Untersuchungsausschuss im Landtag von Brandenburg. Das war und ist verdienstvoll, aber nicht ausreichend. Eine Corona-Aufarbeitung auf Bundesebene gab es nicht; CDU/CSU und SPD haben das erfolgreich verhindert. Sie hatten und haben die Sorge, dass mit der Aufarbeitungsarbeit der Zorn, die Wut und die Giftigkeiten der Corona-Jahre neu entfacht werden, dass die Szene zum Tribunal wird und die Mühlen von AfD und BSW davon angetrieben werden. Das war und ist falsch. Die Mühlen werden nicht von einer Aufarbeitung, sondern von der Nichtaufarbeitung getrieben.
Zur Schläue bei der Aufarbeitung gehört zuallererst die Klärung der Frage, was genau geklärt werden soll. Das richtige Grundgefühl, dass man sich angesichts der gravierenden Auswirkungen, die die Corona-Maßnahmen auf so viele Leben hatten, „irgendwie“ damit beschäftigen muss, ist noch kein Arbeitsauftrag. Den Arbeitsauftrag klug zu formulieren, ist eine Bringschuld der Politik; ausführen müssen den Auftrag dann Juristen und Pädagogen, Virologen und Mediziner, Wissenschaftler und Praktiker aller Fachrichtungen.
Es war die anormalste und aberwitzigste Zeit, die die Bundesrepublik je erlebt hat
Corona hat Jubiläum. Vor fünf Jahren, am 27. Januar 2020, wurde der erste Corona-Fall in Deutschland offiziell bestätigt und bekannt gegeben. Es handelte sich um einen 33-jährigen Mitarbeiter der Firma Webasto im Landkreis Starnberg, der sich bei einer aus China angereisten Kollegin angesteckt hatte. Gut drei Jahre später, im April 2023, hat Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach die Pandemie offiziell für beendet erklärt. Dazwischen liegt die anormalste und aberwitzigste Zeit, die die Bundesrepublik je erlebt hat. Dazwischen liegt eine offiziell ausgerufene „pandemische Lage von nationaler Tragweite“; dazwischen liegt eine Zeit der hektischen Suche nach Schutz vor dem Virus; dazwischen liegt eine Zeit, in der normales Sozialverhalten verboten war; dazwischen liegt eine Zeit der flächendeckenden Schließung aller Bildungseinrichtungen, eine Zeit der Isolierung der Alten in den Altenheimen, eine Zeit der geschlossenen Geschäfte und Betriebe, eine Zeit der verbotenen Veranstaltungen, eine Zeit der Abstandspflichten und Ausgangssperren. Über die meisten dieser Grundrechtseinschränkungen wurde nicht in den Parlamenten entschieden, sondern im informellen Raum – in einem Gremium namens „Videoschaltkonferenz der Bundeskanzlerin mit den Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder“.
Eingriffe in den grundrechtlichen Alltag der Menschen traten automatisch in Kraft, sobald vom Robert-Koch-Institut bestimmte Inzidenzwerte festgestellt wurden; so legten es die Regeln der Bundesnotbremse fest. Lange her. Heute weiß man schon gar nicht mehr richtig, was so ein Inzidenzwert eigentlich war. Also: Vorbei und vergessen? Man kann die Corona-Krise schon deswegen nicht einfach für beendet erklären, weil sie nicht beendet ist: Die Schulschließungen und der Shutdown aller Bildungseinrichtungen haben die Bildungsungleichheit verstärkt. Bei Kindern armer Familien werden die Corona-Jahre Jahrzehnte nachwirken. Und die politischen Auswirkungen der Corona-Zeit – sie begegnen einem auf Schritt und Tritt; sie begegnen einem in den Zuwächsen für die AfD in Deutschland und die FPÖ in Österreich.
Es ist ein schlechter Rat, einfach Gras über die Corona-Zeit wachsen zu lassen. Gras ist nahrhaft für Kühe, nicht für Menschen. Und es ist töricht und falsch, einfach darauf zu verweisen, dass Not eben kein Gebot kenne. Das Gebot in der Krise ist das Gebot der Verhältnismäßigkeit. Es bleibt daher wichtig, nach der Krise über Not und Gebot in Krisenzeiten nachzudenken und sich für künftige Epidemien und Pandemien zu wappnen. Das nennt man Prävention.
„Aufarbeitung“ ist die Bezeichnung für den Willen, das anzupacken. Es ist aber auch ein Container-Wort: Es transportiert unterschiedlichste Erwartungen. Es gibt Leute in der AfD, die wollen, dass Handschellen klicken. Das ist Nonsens und diskreditiert den ganzen Container. Es gilt, und das muss als Arbeitsauftrag spezifiziert werden, Fakten zu klären, Abläufe und Entscheidungsstrukturen zu analysieren und für die Zukunft zu korrigieren:
Was war richtig, was war gut und notwendig? Was war schlecht? Was war unnötig, schädlich, unverzeihlich? Wer Frieden in der Gesellschaft will, muss Antwort auf diese Fragen geben. Nach Umfragen ist fast die Hälfte der Bevölkerung für eine solche Aufarbeitung. Wenn die Politik darüber hinweggeht, wird es keinen inneren Frieden geben. In vielen Menschen sitzt ein tiefes Unbehagen darüber, wie schnell es für die Regierung „keine roten Linien“ (so Olaf Scholz) mehr gab. Eine kluge Aufarbeitung kann vielleicht auch solchen verbalen Exzessen vorbeugen, weil sie die Hysterien der Krisenzeit seziert.
„Ohne Corona“, so sagt es sein Biograf Gernot Bauer, sei „ein Kanzler Kickl nicht denkbar“
Die Anti-Corona-Maßnahmen haben der Gesellschaft die Fragilität der Gewissheiten im demokratischen Rechtsstaat gezeigt. Und es ist ein böser Witz, dass von dieser Fragilität die Partei am meisten profitiert, die diese fragile Demokratie ganz zerbrechen will: die AfD. In Österreich ist es die FPÖ, die Partei des rechtsextremistischen Herbert Kickl: „Ohne Corona“, so sagt es sein Biograf Gernot Bauer, sei „ein Kanzler Kickl nicht denkbar“. Die Ausrufung einer allgemeinen Impfpflicht im November 2021 durch den ÖVP-Bundeskanzler Alexander Schallenberg war wie ein gefundenes Fressen für Kickl. Er erklärte apodiktisch: „Österreich ist mit dem heutigen Tag eine Diktatur.“ Umgesetzt wurde das Gesetz dann nie; es wurde fünf Monate nach dem Inkrafttreten wieder aufgehoben. Aber Kickl behielt es als großes, seine FPÖ befruchtendes Wahlkampfthema. In Deutschland kam die gesetzliche Impfpflicht letztendlich gar nicht, aber die Art und Weise, wie für sie von der Regierungspolitik getrommelt wurde, hallt bis heute, zumal in den Wahlkämpfen, zumal im Osten negativ nach.
Eine kluge Corona-Aufarbeitung könnte nicht nur der Prävention, sondern auch der Mediation dienen. Für die soeben ablaufende Legislaturperiode ist diese Chance vertan.
Hinweis: Diese Kolumne erschien zuerst am 23.01.2025 in der Süddeutschen Zeitung.