Das erfolgreichste deutschsprachige Buch vor der Reformation hat ein Basler Juraprofessor mit Namen Sebastian Brant geschrieben, es war eine bitterböse Satire. Sie erschien 1494, in einer Zeit voller düsterer Weltuntergangsvorstellungen. Brants Buch freilich lässt die Welt mit Witz zugrunde gehen; wahrscheinlich hatte es deshalb so viele Fans. Einer von ihnen war der Maler Hieronymus Bosch, der flugs ein Gemälde aus Brants Stoff zauberte. Buch und Gemälde heißen „Das Narrenschiff“. Die Crew auf diesem Schiff nimmt begeistert Kurs auf Narragonien. Aber alles läuft aus dem Ruder. Das Schiff ist unterwegs ohne Segel und ohne Steuer. Die Mannschaft an Deck treibt singend und saufend ins Verderben.
Vielleicht hat Sie jetzt die Lust gepackt, in Brants Buch zu blättern oder auf Boschs Bild zu blicken. Vorher aber sollten Sie unbedingt zu Christoph Heins neuem Buch greifen. Es heißt ebenfalls „Das Narrenschiff“ und ist eine Erzählung, vielleicht besser gesagt ein episches Panorama der Geschichte der DDR. Seine literarischen Helden sind der kriegsversehrte Johannes Goretzka, der in letzter Minute vor Kriegsende vom Nazi zum Stalinisten mutiert war, der Ökonom Karsten Emser, der in Moskau Stalins Terror überlebt hatte, sowie der aus England emigrierte jüdische Shakespeare-Experte Benaja Kuckuck und ihre Familien. Sie sind nicht Kapitän und Steuermann, aber doch an privilegierter Stelle an Deck des sozialistischen Staatsschiffs, um Kurs auf ein besseres Deutschland zu nehmen. Dabei verstricken sie sich, getrieben von Idealismus und Opportunismus, getröstet von ziemlich viel Alkohol, in Widersprüche und Lebenslügen. Das Buch ist zugleich präzise Chronik der Zeitgeschichte sowie unsentimental nüchternes Protokoll der fiktiven Familiengeschichten, und ebendies macht es so fesselnd. Das Buch ist ein hinreißendes Panoptikum. Ich bin nicht allein mit meiner Begeisterung. Lesen Sie die ausführliche Besprechung meiner geschätzten Kollegin Renate Meinhof, die passenderweise am 17. Juni dieses Jahres in der SZ erschienen ist.
Wer nach der Lektüre von Christoph Heins Buch besserwessirisch denkt: „Niemals wäre ich so närrisch gewesen da mitzumachen!“, der blicke in Sebastian Brants Vorwort zu seinem Narrenschiff aus dem Jahre 1494: „Den Narrenspiegel ich dies nenne, In dem ein jeder Narr sich kenne; / Wer jeder sei, ich dem beschied, Der in den Narrenspiegel sieht.“
Christoph Hein: Das Narrenschiff. Das Buch ist 2025 im Suhrkamp Verlag erschienen. Es hat 751 Seiten und kostet 28 Euro.