Pakete abholen nur mit Smartphone, Terminvereinbarung nur digital: Das ist nicht mit dem Grundgesetz vereinbar. Ein Leben muss auch ohne Handy organisierbar sein. Das gehört zum menschenwürdigen Existenzminimum.

Kolumne von Heribert Prantl

Die Deutsche Post rüstet ihre Packstationen so um, sodass sie nur noch mit Smartphone und eigens installierter Post- und DHL-App funktionieren. Wer die nicht hat, kriegt zwar eine Zustellbenachrichtigung, steht aber dann ratlos vor einer gelben Wand ohne Display. „Hier wird Zug um Zug eine Leistung der Grundversorgung mit Digitalzwang und damit auch mit Überwachung belegt“, beklagte soeben Rena Tangens vom Bielefelder Verein Digitalcourage beim Europäischen Datenschutztag in Berlin.

Die Digitalisierung ist an einem kritischen Punkt angelangt, an dem zu oft aus Wohltat Plage wird. Die Post setzt die „Digital only“-Strategie des Bundesministers für Digitales, Volker Wissing, um. „Wir müssen“, sagt der, „analoge Parallelstrukturen konsequent abbauen und auf komplett digitale Prozesse setzen.“ Das ist freilich eine Strategie, die in die Verfassungswidrigkeit führt. Warum? Selbst die Angebote der staatlichen Grundversorgung und der kommunalen Daseinsvorsorge werden zunehmend an das Smartphone gekoppelt.

Wenn Digitalisierung Menschen nicht mehr hegt, sondern sie überrollt oder überfordert; wenn der Zugang zur Daseinsvorsorge davon abhängt, dass man ein iPhone hat und es einigermaßen behände bedienen kann; wenn analoge Alternativen zum digitalen Prozedere gar nicht vorhanden oder extrem umständlich sind; wenn die Demokratie also komplett verdatet wird – dann ist es, bei aller Liebe zur Digitalität, höchste Zeit dafür, sich auf das zu besinnen, was Datenschutz ist und sein soll: Er ist nicht einfach ein Schutz der Daten. Er ist ein Schutz der Menschen in der digitalen Welt. Er ist das zentrale Grundrecht, er ist das Ur-Grundrecht der Menschen in der Informations- und Internet-Gesellschaft. Datenschutz schützt nicht abstrakte Daten, sondern konkrete Bürgerinnen und Bürger.

Daten sind Ausdruck der Persönlichkeit

Die Daten sind Ausdruck und nicht Abfall der Persönlichkeit. Und weil das so ist, muss gewährleistet sein, dass sie nicht einfach auf digital-kommerziellen Wertstoffhöfen recycelt werden. Der Datenschutz muss davor schützen, dass die Internetfirmen ihre Kundschaft rastern und steuern, lenken und leiten. Er muss davor schützen, dass Tracking-Firmen die Daten aus dem Netz abgreifen. Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung aus dem Jahr 1983 will den Bürger „gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe seiner Daten“ schützen. Das war damals sehr weitsichtig und es ist heute sehr anrührend. Es stammt aus einer Zeit, in der Computer gewaltig große Ungetüme waren; die Größe der Computer ist sehr geschrumpft – auf Smartphone-Größe.

Das Smartphone ist ein sehr kleines Gerät, das viele Menschen andauernd mit sich herumtragen. Selbst die Angebote der Grundversorgung und der Daseinsvorsorge werden zunehmend an das Smartphone gekoppelt. Der zunehmende Digitalzwang belastet den kleinen und den großen Alltag; er ist eine Diskriminierung der Handylosen, die sich ein Smartphone nicht leisten können oder wollen. Anträge bei Behörden und den Unternehmen der Daseinsvorsorge können immer öfter nur online gestellt werden; immer mehr Dienstleistungen und Terminbuchungen werden nur noch digital angeboten; wenn es ein analoges Angebot überhaupt noch gibt, ist es oft abschreckend kundenunfreundlich.

Bisher heißt es in Artikel 3 Absatz 3 des Grundgesetzes: „Niemand darf wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ Dieser Artikel ist ausdrücklich um ein Recht auf ein analoges Leben zu erweitern, genauer gesagt um ein „Recht auf einen analogen Zugang zur Daseinsvorsorge“. Die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben darf nicht unter Smartphone-Vorbehalt stehen; die Nutzung der öffentlichen Infrastruktur auch nicht. Es geht um Inklusion. Inklusion heißt Abbau von Barrieren, Inklusion heißt Zugänglichkeit, und zwar nicht nur zu Gebäuden und Verkehrsmitteln. Inklusion ist also kein bautechnisches, sondern ein gesellschaftspolitisches Prinzip, es ist ein Konzept gegen den Ausschluss von Menschen aus dem Gemeinschaftsleben. Das Recht auf ein analoges Leben gehört zum Grundrecht auf Achtung und Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums.

Werden die analog arbeitenden Menschen aussterben?

Digitalfreaks halten ein solches Grundrecht auf ein analoges Leben für überflüssig und lächerlich. Das sei so, sagen sie, als würde man ein Recht auf Analphabetismus propagieren. Im Übrigen sterbe das Problem mit den jetzt Alten ohnehin aus. Das ist erstens zynisch und zweitens falsch. Falsch ist es erstens schon deswegen, weil auch die heute Jungen alt werden und ihnen dann der behände Umgang mit neuen Apps und sonstigen Innovationen womöglich nicht mehr so leichtfällt. Falsch ist die Aussterbetheorie zweitens auch deswegen, weil es viele sehr technikaffine Junge gibt, die die Gefahren der Digitalität sehr gut kennen – und daher vor dem Digitalzwang und der damit verbundenen Überwacherei warnen. Digital Detox, die digitale Entgiftung, ist also nicht einfach nur eine Lifestyle-Frage. Es geht um den bewussten Verzicht auf eine Technik, die umfassende Überwachung beinhaltet. Wer sagt, er habe nichts gegen ein Überwachen, weil er nichts zu verbergen habe, der mag sich dem Digitalzwang und dem Überwachungskapitalismus fügen. Wer nicht so wurstig ist, der braucht die Wahlfreiheit zwischen einem digitalen Dasein und seinem analogen Sosein. Das Recht auf ein analoges Leben ist ein Recht des mündigen Bürgers.

Hinweis: Diese Kolumne erschien zuerst am 30.01.2025 in der Süddeutchen Zeitung.