In diesen Tagen spüren viele, was ihnen fehlt. Sie erleben schmerzhaft die Diskrepanz zwischen Schein und Sein. Was hilft da?

Kolumne von Heribert Prantl

Es gibt eine Angst vor Weihnachten. Sie läuft nicht durch die Weihnachtsmärkte; sie schlägt lieber einen Bogen um die Holzbuden und Tannenbäume; sie freut sich nicht darauf, dass es dunkel und romantisch wird und dass der Schnee leise rieselt. Sie ist da; und je mehr es weihnachtet, umso größer ist sie. Man kann diese Angst nicht riechen, sie riecht nicht nach Glühwein. Man kann sie nicht schmecken, sie schmeckt nicht nach Lebkuchen. Man kann sie nicht singen; sie hat keine Lieder. Der Weihnachtszauber stresst nicht nur viele Menschen; manchen Trauernden, Einsamen und Verwundeten graut regelrecht vor ihm. Sie seufzen im Stillen: „Wenn Weihnachten doch schon vorbei wäre.“ Dann sind sie befreit vom „O du fröhliche“ und vom „Süßer die Glocken nie klingen“, vom kleinen Lord und vom Familienpflichtbesuch.

Für all die Weihnachtsängstlichen ist heute in einer Woche Auferstehung. Dann ist das Fest der Freude verstrichen, vor dem sie sich am liebsten in Sicherheit bringen würden. Dann können sie wieder in Ruhe traurig sein – ohne die Bitterkeit, dass für sie das Happy End ausbleibt, und ohne schlechtes Gewissen, dass sie mit ihrer Melancholie die Festtagsstimmung verderben.

Es ist dies die Widersprüchlichkeit von Weihnachten: Für die, denen der Himmel, glaubt man den Liedern und Predigten, an diesen Tagen besonders offensteht, also die Leidenden und die Trostlosen, die Einsamen und die Vereinsamten – für sie sind die drei Tage oftmals ein Horror. An diesen Tagen wird die Einsamkeit noch einsamer. Der Schmerz wird noch schmerzhafter. Die Untröstlichkeit wird noch untröstlicher. Es ist wohl so: Wer nicht recht bei Trost ist, weil er Bitteres erlitten hat und Bitteres erlebt, der gehört eben nicht dazu, und er spürt das auch. Da hilft es nichts, wenn man gesagt kriegt: „Versuch doch einfach mal, für drei Tage deinen Kummer zu vergessen.“ Oder: „Schau, die Kinder haben dir ein so schönes Bild gemalt. Sieh doch mal das Gute!“ Das ist kein Trost, nicht einmal billiger.

Rette sich, wer kann, vor Allerweltsweisheiten

Weihnachten ist das Fest, an dem die Diskrepanz zwischen Realität und Schein besonders krass spürbar wird. Weihnachten ist ein Fehlfest: Es lässt, manchmal sehr brutal, spüren, was in der privaten und der globalen Welt alles fehlt, was zerbrochen, was vergangen, was verloren oder verraten ist. Es fehlen Menschen, die einem so lieb und so ungeheuer wichtig waren; es fehlt die Zeit, die man früher hatte. Es fehlen Gesundheit und Kraft, auf die man früher bauen konnte. Es fehlen herzliche Gelassenheit und wohlige Freude, an die man sich mit Wehmut und in Zeiten der Trauer mit großen Schmerzen erinnert. Es fehlt der innere Friede – und der äußere Friede fehlt ohnehin. Weihnachten ist ein Fehlfest.

„Wo bleibst du, Trost der ganzen Welt?“ So fragt das Adventslied „O Heiland, reiß die Himmel auf“. Es fleht um Trost: „Komm, tröst uns hier im Jammertal.“ Aber wie geht das, das Trösten? Kann man Trost spenden, wie gern gesagt wird? Ist Trost also etwas, das man mit sich führt wie die Münzen im Geldbeutel? Rette sich, wer kann, vor gespendetem Trost, vor Allerweltsweisheiten, vor schnell dahingesagten Ermunterungen. Das macht aggressiv, weil solch gespendeter Trost die unangenehme Richtung von oben nach unten hat.

Wie trösten geht, kann man in den alten Büchern lesen und lernen, in der Hiob-Geschichte im Alten Testament zum Beispiel, in welcher sich das jüdische Ritual der siebentägigen Trauer nach einem Todesfall spiegelt: Dieser Hiob, der im Wort von der Hiobsbotschaft fortlebt, hat alles verloren, seine Familie, seinen Besitz, seine Gesundheit. Sein Name ist der Inbegriff des trostlos Leidenden schlechthin. Seine drei besten Freunde hören von dem Unheil und verabreden, „hinzugehen, ihm zuzunicken und ihn zu trösten“. So wird das dann geschildert: „Sie erhoben von fern ihre Augen und erkannten ihn nicht wieder und weinten. Sie zerrissen ein jeder sein Obergewand und streuten Asche auf ihr Haupt. Dann setzten sie sich zu ihm auf die Erde – sieben Tage und sieben Nächte lang. Keiner sprach ein Wort zu ihm, denn sie sahen, dass der Schmerz sehr groß war.“

Was kann man daraus lernen? Wer Trost braucht, ist oft nicht wiederzuerkennen, fühlt sich unansehnlich. Hiobs Freunde lassen sich davon nicht abschrecken, anders als jene, die die Straßenseite wechseln, wenn die frisch verwitwete Nachbarin kommt. Sie zerreißen ihre schöne Kleidung und bestreuen sich mit Asche, sie sind also solidarisch – so wie jene Freunde des krebskranken Mitschülers, die sich während seiner Chemotherapie mitleidend Glatzen rasieren lassen. Und dann hocken sie sich zu ihm in den Dreck, sie halten den Mund, sie halten die beklemmende Situation aus, und vielleicht halten sie, wenn der Freund es mag, zwischendurch seine Hand. Keine Fragen, keine Ratschläge. Sie schweigen, sie nehmen Hiobs Schmerz ernst, sie achten die Würde seiner Trostlosigkeit.

Trösten ist nichts, was man auf die Schnelle macht

Aus der Hiob-Geschichte kann man lernen, womit trösten beginnt: Trösten beginnt damit, dass man sich Zeit nimmt. Das wäre die Kunst, die Trostkunst in der voll verplanten Weihnachtszeit: sich mal trauen, dem, was schmerzt und fehlt, Zeit zu geben und es nicht flott zu überspringen. Trösten ist nichts, was man auf die Schnelle macht. Trost hat es deshalb schwer im modernen Jammertal der rasend schnellen Social-Media-Welt, in der Chatbots, gefüttert von künstlicher Intelligenz, sich als Begleiter und Vertraute anbieten. Die Firmen, die so etwas anpreisen, heißen Replika und Character AI. Sie sind verführerisch, sie packen die Menschen am wundesten Punkt, nämlich an ihrer Trostbedürftigkeit. Aber weil sie nicht zum Trösten, sondern zum Geldverdienen und Datensammeln geschaffen sind, machen sie nicht frei, sondern halten abhängig. Trost befreit. Trostsimulation entfremdet.

Warum Maschinen nicht trösten können? Weil nur trösten kann, wer weiß, dass er selbst auf Trost angewiesen ist; und trösten kann auch nur, wer weiß, dass er nicht mit allem allein fertigwird und nicht für alles eine Lösung hat – und das auch nicht muss. Weil der Mensch ein Mensch ist, braucht er menschlichen Trost. Daran erinnert Weihnachten, das Fest der Menschwerdung.

Hinweis: Diese Kolumne erschien zuerst am 19.12.2024 in der Süddeutchen Zeitung.