Er war ein Nagelbeißer und verlässlicher Zuspätkommer. Er war ein Plagiator, der nichts dabei fand, große Teile seiner Doktorarbeit bei anderen abzuschreiben. Er war notorisch untreu und hatte mehrere außereheliche Affären parallel. Er war klein von Gestalt und seine Verächter nannten ihn „Loser“. Martin Luther King war kein makelloser Mensch, er war: ein Mensch. An ihm ist zu lernen, dass man zugleich heilig und profan, groß und klein, untreu und treu, vorbildlich und abstoßend, moralisch und liederlich sein kann. Auch wenn der Wunsch nach charakterlicher Reinheit groß ist – es gibt sie nicht, die Lichtgestalten, die keine Schatten werfen.

Jonathan Eig erweist dem Bürgerrechtler mit seiner kürzlich erschienenen Biografie, der ersten seit dreißig Jahren, einen guten Dienst und holt ihn vom Heiligensockel, auf den er gestellt wurde. Er löst den Weichzeichner auf, mit dem seine Person gefällig gemacht und domestiziert wurde. Martin Luther King bekommt die Statur und Kontur, die er hatte, die eines ganz und gar nicht perfekten Menschen und zugleich eines unermüdlichen Menschenrechtlers, eines radikalen Propheten, eines begnadeten Predigers, eines unbestechlichen Intellektuellen und eines unwiderstehlichen Menschenfreundes, dessen einzige Instanz im Leben sein Gott ist und niemand sonst. Gewaltlosigkeit war für Martin Luther King nicht Strategie, nicht Taktik, nicht Prinzip, nicht Schaufenstergebaren und nicht Mittel, um politisch etwas zu erreichen. Kings Pazifismus war tief in seiner Spiritualität verankert und daraus gewann er seine unglaubliche und ansteckende Furchtlosigkeit. Das war das Erfolgsgeheimnis der Bürgerrechtsbewegung.

So viel Gewalt; so viel Furchtlosigkeit

Jonathan Eig hat für seine jahrelange Recherche exorbitant viele Interviews mit noch lebenden Zeitzeugen geführt. Er hat sich auch hunderte Stunden die FBI-Mitschnitte und Abhörprotokolle angehört. Diese belegen nicht allein das ausschweifende Sexleben Martin Luther Kings. Sie belegen vor allem den bösartigen und exzessiven Abhöreifer, die bewussten Lügen und Durchstechereien, mit denen das FBI Martin Luther King überzogen hat, alles im Bestreben ihn und die Bürgerrechtsbewegung moralisch zu diskreditieren und ihnen kommunistische Beeinflussung anzudichten. Man zieht den Hut vor einer Presse, die sich damals verweigerte mitzumachen, die durchgestochenen intimen Details über King öffentlich auf den Markt zu werfen.

Jonathan Eigs mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnetes siebenhundert Seiten starkes Werk erzählt nicht allein vom Leben des Bürgerrechtlers, einem Leben in steter Todesgefahr, und von der Bewegung, die sich hinter ihm versammelte. Es erzählt auch drastisch vom gewalttätigen und tief in die US-Gesellschaft eingewobenen Rassismus. Man liest und es dämmert einem, dass die gegenwärtige Spaltung der USA hier ihre tiefen Wurzeln hat. Man liest und will dieses fesselnde Buch am liebsten in einem Zug durchlesen und legt es zugleich immer wieder erschüttert aus der Hand, sinnt nach, kann es nicht fassen. So viel Gewalt. So viel Furchtlosigkeit.

Jonathan Eig: Martin Luther King. Ein Leben. Das Buch ist in diesem Jahr in der Deutschen Verlags-Anstalt erschienen. Das Buch hat 752 Seiten und kostet 34 Euro.