Heute empfehle ich Ihnen ein Buch, das seit seinem Erscheinen reichlich gefeiert wird. Ich könnte es also lassen. Ich empfehle es Ihnen trotzdem, denn wer den Rechtsstaat und die Menschlichkeit verteidigt, kann es nicht nicht empfehlen. Es ist ein Muss für mich, Ihnen zu schreiben: Lesen Sie unbedingt Emmanuel Carrères großartiges Werk V13 über den so genannten „Bataclan-Prozess“. Und ich möchte Ihnen das ausführlich erklären (deshalb heute nur eine einzige Lese-Empfehlung): Es ist dies eine akribische Gerichtsreportage und zugleich ein durch und durch unpathetisches und deshalb überzeugendes Denkmal für Mitmenschlichkeit, Gerechtigkeit und die Stärke des Rechtsstaates. V13 ist ein Buch, das man fiebernd liest, erschüttert und dankbar für so viel Aufrichtigkeit, mit sich steigernder Neugier, mit dem Gefühl, Seite für Seite klüger zu werden, und nach der letzten Seite mit dem Wunsch, es unbedingt noch einmal zu lesen.
Zum Beispiel die Sätze Aristides, eines jungen Mannes, der, dem Tod näher als dem Leben, aus dem Blutbad im Bataclan gerettet wurde, und von den Verletzungen gezeichnet, seinen Weg durch Nahtod, Schmerz und Trauma in ein neues Leben schildert und seine Aussage beschließt mit: „Ich habe versucht zu verstehen, was junge Leute dazu bringt, einfach so auf andere junge Leute zu schießen. Ich verstehe es nicht, vielleicht gibt es da auch nichts zu verstehen. Aber ich bin froh, dass sie jetzt angehört werden. Ich bin froh, dass dieser Prozess stattfindet. Ich glaube, dass meine und die nächste Generation ein wahnsinniges Bedürfnis haben, an Gerechtigkeit zu glauben“ – „Dass sie (die Opfer) zu uns sprechen können, ist bereits Gerechtigkeit“, sinniert daraufhin Emmanuel Carrère und man stimmt ihm zu.
Es ist sein Verdienst, dass Aristides Worte und andere eindringliche Zeugnisse der Überlebenden, sowie der Angehörigen der 130 Ermordeten nicht allein in den Gerichtsakten nachzulesen sind, sondern jetzt weltweit in diesem Buch. Halt – es waren 131 Tote, korrigiert Carrère die Statistik und vergisst nicht von jenem verzweifelten jungen Mann zu berichten, der an seinem Trauma zerbrach und sich das Leben nahm.
Immer wieder beeindruckt der Autor mit pedantischer Genauigkeit, die doch nichts anderes als großzügigste Menschenfreundlichkeit ist, und einem feinfühligen Blick auch für jene, deren Leid nicht mithalten kann mit den Opfern jenes unvorstellbaren Horrors, dessen schonungsloser, unsentimentaler Chronist er ist. Er würdigt die tiefen Leiden und die großen Stärken der Überlebenden, eben weil er sich an keiner Stelle zu Leidenskitsch oder Positive-Thinking-Plattitüden hinreißen lässt. Und er würdigt auch die Meisterleistung der Justiz, zum Beispiel die Leistung des Vorsitzenden Richters Périès, der seine Autorität zu Prozessauftakt durch nur vier Worte etabliert. Nach seinem Beruf gefragt, antwortet der Hauptangeklagte dramatisch: „Kämpfer des Islamischen Staates“ – daraufhin ungerührt Périès: „Bei mir steht Zeitarbeiter.“
Eine Meisterleistung der Justiz
So gut wie keinen der 149 Sitzungstage im „die Kiste“ genannten Saal des Pariser Justizpalastes hat Emmanuel Carrère, einer der renommiertesten französischen Schriftsteller, versäumt; beinahe ein Jahr währte der gigantische Prozess über die Pariser Attentate vom 13. November 2015. In Zahlen: 1800 Nebenkläger, 300 Anwälte, unzählige Zeugen, 14 Angeklagte. Seine Crux: Die islamistischen Haupttäter waren zu Prozessbeginn allesamt tot; sie hatten sich in die Luft gesprengt. Angeklagt waren solche, die die Attentate geplant und bei ihrer Durchführung geholfen hatten, zuvorderst Salah Abdeslam, der aus unerfindlichen Gründen nicht in die Luft flog, und solche, die vielleicht gar nicht wussten, zu welchem Verbrechen sie beigetragen hatten. Es war ein Prozess mit dem „maßlosen Anspruch, nämlich innerhalb von neun Monaten in den Blickwinkeln und Perspektiven aller Akteure darzulegen, was an diesem Freitag, dem dreizehnten, geschah. V13 – Vendredi 13 ist der Name dieses juristischen Versuchs, das zu bewältigen, was nicht zu bewältigen ist. Ich bewundere Carrères Disziplin das ausgehalten zu haben: den Horror, die Abgründe und auch die Langeweile der endlosen Prozesstage.
Ein mickriges Mysterium
Noch mehr aber bewundere ich, wie es ihm gelingt, Empathie auch für die Angeklagten aufzubringen, sein unbedingter Wille, sie zu verstehen, seine Strenge, die keine halben Erklärungen durchgehen lässt, seine Beharrlichkeit, sich in die Widersprüche verstricken zu lassen, seine Ehrlichkeit, die die Grenzen des Verstehbaren benennt, und seine literarische Genialität, dies alles präzise und eindringlich in Worte zu fassen – um am Ende ernüchtert und selbstkritisch festzustellen: „Was kümmern uns die Gemütszustände von Salah Abdeslam? Ein mickriges Mysterium: eine von Lügen umhüllte, abgrundtiefe Leere, mit der sich so eingehend beschäftigt zu haben man im Nachhinein ein wenig entsetzt ist.“ Mehr braucht es nicht, um den religiösen Eiferern jeden Nimbus von Grandiosität oder Geheimnis zu nehmen. Da ist im Kern nichts als jämmerliche Leere.
Am Ende ist es ein einfacher muslimischer Streifenpolizist in Kairo, den Carrère zu Wort kommen lässt. Ihm, dem Unbekannten, erzählt Nadia, die muslimische Mutter einer Ermordeten, ihre Geschichte. Er hört ihr zu. „Als sie fertig war, sagte er zu Nadia: Deine Tochter und die anderen sind Schahid, Märtyrer – und aus dem Mund dieses ägyptischen Polizisten zu hören, dass sie die Märtyrer waren und nicht die Mörder, die sich in ihrer haarsträubenden und manipulierten Ignoranz diesen Ehrentitel anmaßten, war, als rücke die Welt wieder in ihre Fugen.“
Emmanuel Carrère: V13. Die Terroranschläge in Paris. Gerichtsreportage. Das Buch ist vor kurzem bei Matthes & Seitz Berlin erschienen, es hat 275 Seiten und kostet 25 Euro.