Eine gerechte Ordnung, nicht Chaos muss das bestimmende Prinzip sein. Die US-Regierung schadet den langfristigen Interessen ihres Landes, wenn sie das Völkerrecht missachtet.

 

Kolumne von Heribert Prantl

Es gibt Leute wie Elon Musk, die vom Völkerrechtnicht die blasseste Ahnung haben, aber es in Bausch und Bogen ablehnen, weil es angeblich die US-Macht behindert und bedroht. Solche Leute also beraten den US-Präsidenten Donald Trump, der vom Völkerrecht auch nur eine sehr blasse Ahnung hat; und sie schlagen ihm den Austritt aus den Vereinten Nationen und der Nato vor. Das klingt nicht nur wie eine Verabschiedung vom Völkerrecht; das wäre auch eine – also eine Katastrophe.

Gewiss: Völkerrechtsskeptiker und Völkerrechtsnihilisten gibt es schon, seitdem ein Völkerrecht existiert. Aber sie haben noch nie eine Weltmacht regiert. Im Gegenteil: Einige wichtige US-Staatschefs haben dazu beigetragen, das Völkerrecht weiterzuentwickeln. Ein Präsident wie Franklin D. Roosevelt hat die vier Freiheiten verkündet, die bei der Bildung der Anti-Hitler-Koalition und bei der Gründung der Vereinten Nationen eine Rolle spielten. Sein Nachfolger Harry S. Truman hat den Marshall-Plan zum Wiederaufbau Europas nach dem Zweiten Weltkrieg ins Leben gerufen; er war benannt nach Trumans Außenminister. Diese US-Präsidenten haben verstanden, dass die Einhaltung und die Verbesserung des Völkerrechts im langfristigen Interesse einer Macht liegt, die Führungsmacht sein will. Auch zu Roosevelts, zu Trumans und später zu Kennedys Zeit trennten die Welt Welten von den Ideen einer gerechten Welt unter der Herrschaft des Rechts. Aber damals waren solche Ideen immerhin eine Hoffnung. Heute ist unsere Welt der Hoffnungslosigkeit näher als der Hoffnung.

Wozu ist das Völkerrecht da? Es soll dafür sorgen, dass die Staaten gute Ziele gemeinsam erreichen. Völkerrecht soll den Welthandel fair regeln. Völkerrecht soll Kriege verhindern. Es soll Kriege beenden. Es soll dafür sorgen, dass in Kriegen, wenn sie denn nicht verhindert und solange sie nicht beendet werden können, grundsätzliche Prinzipien der Menschlichkeit gelten. Das Völkerrecht soll den Waffenhandel begrenzen. Das moderne Völkerrecht soll dafür sorgen, dass Maßnahmen gegen den Klimawandel ergriffen werden. Das Völkerrecht definiert Werte, auf die sich alle Menschen überall kraft ihres Menschseins berufen können – dazu gehören die Sicherung der Existenz, Freiheit und Gerechtigkeit. Das Völkerrecht ist weit davon entfernt, diese auch effektiv durchsetzen, aber es formuliert in Vertragswerken, die auf dem Konsens der Staatengemeinschaft beruhen, die geltenden und gültigen Ideale – und hat zu deren Verwirklichung internationale Organisationen gegründet.

Im Völkerrecht gibt es Grundregeln, die bestehen bleiben müssen, wenn nicht alles in Anarchie und Chaos enden soll; dazu gehört etwa das Prinzip: Pacta sunt servanda, Verträge muss man halten. Völkerrecht ist also auch der Glaube daran, dass Ordnung und nicht Chaos das bestimmende Prinzip der Welt sein muss. Völkerrecht ist eine Ordnung, in der Begriffe wie „Treu und Glauben“ Wert und Bedeutung haben und in der, wie der Schweizer Völkerrechtler Daniel Thürer das formuliert, der Respekt vor Völkern, Gesellschaften, Individuen und ihren Lebensformen wichtig ist. Die Regeln der Courtoisie, die Trump wenig bedeuten und deren Missachtung zu seiner politischen Strategie gehört, also die Regeln der Höflichkeit, des Takts, der internationalen Sitte, auf Lateinisch Comitas Gentium genannt – sie gehören zwar nicht zum Völkerrecht, sie sind aber wichtig, wenn die Völkerrechtsordnung funktionieren soll. Das Völkerrecht ist daher fragil; es ist, verglichen mit dem nationalen Recht, gebrechlich und zerbrechlich; es ist eine auf ständige Kräftigung angewiesene Kulturleistung der Staatengemeinschaft.

Diese Ordnung, wie sie sich in den vergangenen Jahrhunderten entwickelt hat, wird von der Regierung des US-Präsidenten Donald Trump infrage gestellt und despektiert. Wenn eine Weltmacht, die sich als Weltführungsmacht versteht und darstellt, so agiert, setzt ein Prozess der völkerrechtlichen Entzivilisierung ein. Das wäre, das ist der Abbruch einer Entwicklung, die vor genau vierhundert Jahren begonnen hat. Damals publizierte der niederländische Jurist Hugo Grotius, der als „Vater des Völkerrechts“ gilt, sein großes Werk „Über das Recht des Krieges und des Friedens / de jure belli ac pacis“. Dieses Werk, mit dem die Ent-Theologisierung der europäischen Rechtswelt begann, lag vorbildstiftend bei den Verhandlungen auf dem Tisch, die 1648 zum Frieden von Münster und Osnabrück führten; mit diesem Friedensvertrag wurde der Dreißigjährige Krieg beendet.

Mehr als 120 Staaten erkennen den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag an – die USA nicht

Das klassische Völkerrecht, das sich damals zu entwickeln begann, war noch kein Kriegsverhütungsrecht, wie es das moderne Völkerrecht sein will. Es wollte den Krieg lediglich eingrenzen. „Der epochale Wandel von der Kriegsfreiheit zum Kriegsverbot“, so schreibt Stephan Hobe in seiner Einführung in das Völkerrecht, „trat erst im 20. Jahrhundert ein.“ Die USA waren bei diesem großen Wandel des Völkerrechts hin zu einer globalen Friedens- und Gerechtigkeitsordnung Antreiber und Bremser zugleich, wobei die Rolle als Bremser nicht erst mit Trump begann. Beispiele: Die USA sind zusammen mit Somalia das einzige Land, das die UN-Kinderrechtskonvention nicht ratifiziert hat; sie gehören zu den wenigen Ländern, die sich der UN-Frauenrechtskonvention nicht angeschlossen haben; das gilt auch für den UN-Sozialpakt, für die Ottawa-Konvention, also das Landminenverbot, und das Pariser Klimaabkommen verlassen sie nun auch wieder. Stets standen und stehen Souveränitätsbedenken im Weg, viele US-Politiker sahen und sehen internationale Verpflichtungen als Einschränkung nationaler Interessen, zumal in wirtschafts- und sicherheitspolitischen Fragen. Mehr als 120 Staaten erkennen den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag und seine Zuständigkeit für die Strafverfolgung von Völkermorden, von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit an – Russland, Israel und die USA nicht.

Die „America First“-Politik, die die nationale Souveränität über multilaterale Verpflichtungen stellt, begann also nicht erst mit Trump; mit ihm trat und tritt sie aber in eine exzessive und ungehobelte Phase. Schon in seiner ersten Amtsperiode zogen sich die USA aus dem Pariser Abkommen zurück, sie traten aus der Unesco aus, sie kündigten die Weltpostverträge. Jetzt, so scheint es, stellt die zweite US-Regierung unter Trump das Völkerrecht als Weltordnungssystem insgesamt infrage. Es wird daher die Aufgabe der Staatengemeinschaft sein müssen, nicht nur den Krieg, sondern auch Autokraten werbend einzuhegen.

Hinweis: Diese Kolumne erschien zuerst am 13.03.2025 in der Süddeutchen Zeitung.