Es kommt vor, dass ein einziges Wort einem den Kopf neu einrichtet, dass ein einziges Wort den Blick auf einen Politiker verändert. Der Politiker, bei dem mir das soeben passierte, ist schon lange tot – es handelt sich um Heinrich Lübke. Der zweite Bundespräsident der Bundesrepublik galt mir als ein etwas täppischer, silberhaariger Herr, der auf seine alten Tage seine Sinne nicht mehr ganz beieinander hatte. Auf ein einziges Wort hin habe ich damit begonnen, mein abfälliges Urteil über Lübke zu revidieren.

Das Wort heißt: „Creifelds“. Creifelds war der Namensgeber eines anspruchsvollen Rechtswörterbuchs, das seit meinem zweiten Jura-Semester bei mir im Bücherregal steht – mit vielen handschriftlichen Anmerkungen, die ich da im Lauf der Studienjahre gemacht habe. Der Historiker Norbert Frei berichtete bei der Vorstellung seines Buches über „Die Bundespräsidenten und die NS-Vergangenheit“ davon, dass Lübke es abgelehnt habe, diesen Carl Creifelds zum Richter am Bundesgerichtshof zu ernennen: Er weigerte sich beharrlich, die Ernennungsurkunde zu unterschreiben; selbst nach zweistündiger Vorsprache einer Delegation des Richterwahlausschusses ließ sich Lübke nicht erweichen. Das hatte seinen guten Grund: Creifelds war, entgegen seiner Selbstauskunft, als Jurist im NS-Reichsjustizministerium gewesen, dort als Staatsanwalt zuständig für die kriegsverbrecherische Strafverordnung gegen Polen und Juden in den besetzten Ostgebieten; ein eifriges Mitglied der SA war er auch.

Lübke, das lernte ich anhand dieses Falls, war sehr reserviert gegenüber politisch Belasteten – ob es um Ordensverleihungen ging oder um die Bestätigung von Botschaftern. Und er lehnte es ab, Urkunden zu unterzeichnen, die belasteten Ministerialbeamten am Ende ihrer Dienstzeit für die „dem deutschen Volk geleisteten treuen Dienste“ dankte. Ich lernte beim Nachlesen, was ich nicht gewusst hatte: Lübke hatte 1934/35 zwanzig Monate in NS-Untersuchungshaft gesessen, als Opfer der Gleichschaltungspolitik der Nazis. Mit Gustav Heinemann, dem dritten Bundespräsidenten, so legt Norbert Frei dar, verbindet Lübke mehr als gemeinhin angenommen wird.

Das sind überraschende Erkenntnisse. Und überraschend ist auch der nuancierte und differenzierte Blick von Frei auf den vielgerühmten Richard von Weizsäcker und seine Rede vom 8. Mai 1985. Weizsäcker hätte sich in dieser berühmten Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes beinah für die Freilassung des „Führer“-Stellvertreters Rudolf Heß aus der Vier-Mächte-Haft eingesetzt – „was seine Rede wohl um ihre Wirkung gebracht hätte“. Das Buch mit dem Titel „Im Namen der Deutschen“ ist ein beeindruckendes und scharfsichtiges Protokoll des Auf und Ab der Vergangenheitsbewältigung an der bundesdeutschen Staatsspitze.

Norbert Frei: Im Namen der Deutschen. Die Bundespräsidenten und die NS-Vergangenheit. Das Buch ist soeben im Verlag C.H.Beck erschienen, es hat 377 Seiten und kostet 28 Euro.

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