In der vergangenen Woche wurde der Kollege Jürgen Busche beerdigt. Er war einst mein Vorgänger als Leiter der innenpolitischen Redaktion der Süddeutschen Zeitung. Busche war kein Bayer, sondern ein Brandenburger, aber er war, wie man in Bayern sagt, ein „Gwapppelter“. Er war ein gewiefter, ein hartnäckig lustvoller Diskutant. Wenn er mit Konservativen zusammen war, gab er sich als Liberaler. Wenn er mit Liberalen parlierte, war er krachkonservativ. Der studierte und begeisterte Althistoriker war also einer, der in seiner eigenen Person die Dialektik vorstellte.
Das Wort „gwappelt“ kommt von Wappen, die Gwappelten waren in Bayern die Familien, die ein eigenes Wappen führten. Der Kollege hätte ein Wappen mit einem Busch verdient, darauf Lorbeer und Lavendel. So ein Wappen möchte ich ihm jetzt aufs Grab legen. Er liebte ja die Rituale, die religiösen vor allem, und er wusste um ihre Bedeutung und ihre Geschichte. Seine eigene Beerdigung hätte ihm gefallen: Der ultramontane Katholik fand, nach einem Trauergottesdienst in der katholischen Ludwigskirche in Berlin-Wilmersdorf, seine letzte Ruhestätte auf dem alten evangelischen Sankt-Matthäus-Kirchhof in Berlin-Schöneberg. Detlef Esslinger hat in der SZ vom 1. Juli einen schönen Nachruf auf „einen konservativen Anarchisten“ geschrieben.
Beim Sinnieren über das Leben, das Sterben und den Kollegen Busche, der ein großer Bücherfreund war, ist mir ein wunderbares Buch über die Rituale des Lebens und Sterbens eingefallen, das ich Ihnen nachfolgend vorstelle.
Das Totenkissen
Die alte Tanja, eine der Heldinnen des Buches, erinnert mich an meine Oma Maria – nicht nur deshalb, weil sie ihre langen Haare zu einem Zopf geflochten, zu einem Dutt zusammengerollt und mit einer Haarnadel festgesteckt hat. Vor allem deshalb, weil für die alte Tanja, wie bei meiner Großmutter auch, das Sterben, der Tod und die zugehörigen Rituale zum Lebensalltag gehörten. Die alte Tanja ist die Urgroßmutter von Valery Tscheplanowa, der Autorin des Buches. Das zauberhafte literarische Erstlingswerk dieser 1980 im damals sowjetischen Kasan geborenen und in Deutschland aufgewachsenen Schauspielerin ist eine autobiografische Spurensuche in Miniaturen. Liebevoll, kraftvoll und humorvoll verflicht sie – wie die russische Urgroßmutter ihr langes Haar – die Lebensfäden der alten Tanja, ihrer Tochter Nina, ihrer Enkeltochter Lena und ihre eigenen. Das Haus der alten Tanja ist der Ort der frühen Kindheit der Autorin, ein magischer Lebensort, in dem der Tod einen selbstverständlichen Platz hat.
Eine meiner Lieblingsstellen im Buch ist diese: „In der Ecke hängt eine Ikone an der Wand. Sie ist geschmückt mit Plastikblumen und Kerzen. Das Mädchen schaut sich die Ikone oft an, die Ikone und die Truhe, in der die Sterbekleider und das Totenkissen ihrer Urgroßmutter Tanja liegen. Das sind die Boten dieser anderen Welt, von der die Alte oft erzählt, die Engelswelt, für die sie das ganze Jahr Zwiebelschalen aufhebt, um die Eier bunt zu färben zu Ostern, und zu der sie betet am Morgen und am Abend. Die Urgroßmutter sammelt ihre Haare schon ihr Leben lang und füllt damit ihr Totenkissen. Viel fällt nicht mehr ab von dem dünnen Rattenschwanzzopf. Nach dem Kämmen wird das Haar sorgsam in den kleinen bestickten Kissenbezug gelegt. Wenn das Mädchen ausnahmsweise mal allein ist, öffnet es die Truhe und sieht sich diese einzelnen Sterbebegleiter an: das Kissen, das Totenhemd, die Totenschuhe. So wie an dem Brunnen mit dem Pferd, starrt sie auf die Dinge, als trügen sie Geschichten aus einer anderen Welt.“
Die neue Zeit nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und der Mauer hat nichts Gutes für die alte Tanja gebracht. Die Familie wird zerrissen, und sie versteht die Welt nicht mehr. „Oft hält sie die Hände ihrer Urenkeltochter in ihren großen, rauen Händen und schüttelt den Kopf“, erinnert diese sich. Und auch an ihre besorgte Frage: „Wie willst du damit arbeiten, Kind, mit deinen kleinen Händen?“ Wie, das zeigt Valery Tscheplanowa auf der Bühne und auf den 192 Seiten ihres großartigen Romans.
Valery Tscheplanowa: Das Pferd im Brunnen. Das Buch ist 2023 im Rowohlt Verlag erschienen, hat 192 Seiten und kostet 22 Euro.