Putin, Trump, Dunkelheit. Es leuchtet wenig in den letzten Wochen des Jahres. Aber es gibt Risse und Ritzen, zum Glück. Leonard Cohen schrieb einst das passende Lied dazu.
Kolumne von Heribert Prantl
Es war schon lange nicht mehr so dunkel in der Welt. Vom inneren und äußeren Frieden ist wenig zu spüren; Ukraine, Gaza – die Flut von Gewalt und Terror war schon lang nicht mehr so hoch. Und das politische Unbehagen, die Beklemmung und die Beklommenheit waren in Deutschland schon lang nicht mehr so groß wie nach der neuerlichen Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten und dem gleichzeitigen Ende der Ampelregierung in Deutschland. Womöglich bringt die Wahl Trumps an die Spitze der Weltmacht noch mehr Spaltung ins demokratische und ins wirtschaftliche Weltgefüge, als dies der 24. Februar 2022 schon getan hat. Die ukrainischen und die palästinensischen Brüche setzen sich fort und verästeln sich auch im privaten Lebensgefüge vieler; sie verbinden sich mit der Entzweiung, die Corona hinterlassen hat. Das Leben verliert seine Stabilität. Die innere Unsicherheit nimmt zu.
Ist das die Zeitenwende? Die „Zeitenwende“ war und ist, seit Bundeskanzler Olaf Scholz diesen Begriff im Februar 2022 im Bundestag serviert hat, das Schlüsselwort für die Rückkehr der Politik ins Militärische. Vielleicht wird dieses Wort in dunklen Zeiten zum Sehnsuchtswort – zu einem Wort, das für die Sehnsucht steht nach besseren und stabileren, nach weniger herrischen und weniger verschatteten Zeiten; für die Sehnsucht nach einer neuen Aufklärung; für die Sehnsucht nach einer Zeit, in der die rissige Welt wieder heiler ist als heute. Die säkularisierten Gesellschaften Europas erleben, wie sich Krise auf Krise türmt, während die politische Gestaltungskraft immer ohnmächtiger wirkt und Europa immer randständiger zu werden scheint. Die Veränderungen sind nicht mehr schleichend, sondern stampfend – und sie betreffen nicht mehr nur jene, die am Rand der Gesellschaft vor sich hin krebsen; sie sind angekommen bei denen, die mittendrin sind.
Der kleine Sprung in der kontinuierlichen Katastrophe
Die Schatten sind groß, die Lichter sind klein. Eigentlich ist das ja in jedem Jahr so im November, in dem Monat also, in dem die Kinder mit ihrer Laterne gehen und dazu singen: „Da oben leuchten die Sterne / und unten leuchten wir.“ Die beiden letzten Monate im Jahr – es ist dies die Zeit der kleinen Lichter. Sie brennen auf den Gräbern an Allerheiligen, sie leuchten beim Martinsumzug, sie stecken dann auf dem Adventskranz und auf dem Weihnachtsbaum. Sonst leuchtet freilich wenig zum Jahresende 2024. Die kleinen Lichter stehen für die Hoffnung; sie leuchten an gegen eine vulgär-apokalyptische Grundstimmung und gegen autokratische Gelüste auch bei vielen Wählerinnen und Wählern. Ihr Licht ist schwach und klein – aber es reicht wohl, um Ritzen im Gebäude der Geschichte kenntlich zu machen; es sind die Ritze und Rissen, durch die Hoffnungsschimmer fallen. Die Rettung, so hat der Philosoph Walter Benjamin einmal formuliert, hält sich an den kleinen Sprung in der kontinuierlichen Katastrophe.
Gewalt erwächst nicht allein aus Boshaftigkeit, sondern aus Strukturen
Der Poet und Sänger Leonard Cohen hat einen Song geschrieben auf diesen Sprung, auf diesen Riss. Erst formuliert er eine niederschmetternde Bestandsaufnahme: „Die Kriege werden kein Ende nehmen; die Friedenstaube wird wieder eingefangen, gekauft und verkauft und wieder gekauft; die Taube ist niemals frei.“ Trotzdem ist sein Stück nicht einfach ein Lamento; Leonard Cohen nennt es „Anthem“, also Hymne. Es ist ein Loblied auf den „Crack in everything“ – „that’s how the light gets in“.
Es ist eine aufklärerische Einsicht, dass Krieg, dass brüllende Ungerechtigkeit und Gewalt nicht allein in der Boshaftigkeit einzelner Menschen ihre Ursachen haben, sondern aus Verflechtungen, Strukturen und sich selbst nährenden Ordnungen erwachsen, die Krieg und Gewalt wie Unkraut nachwachsen lassen. Aber: Da ist ein Riss, auch darin. Es darf nicht vergessen werden, was einzelne Menschen vermögen, wenn sie den Riss erkennen, einen hellen Moment haben und den nötigen Mut. Es sind Menschen wie Gustav Stresemann, Martin Luther King, Willy Brandt, Wangari Maathai, Muhammad Yunus oder Maria Angelita Ressa, die für diesen Mut den Friedensnobelpreis erhalten haben; und es sind Personen wie Mahatma Gandhi, die ihn nicht erhalten haben, aber ihn hätten erhalten müssen. Denn das, was wir Struktur, System und Gesetz nennen, sind am Ende einzelne Menschen, die einander gegenübersitzen und miteinander verhandeln. Zwischen diesen Menschen kann sich etwas zusammenfügen, was am Ende mehr ist als die Summe seiner Teile.
In der Geschichte gab es immer wieder eine Reihe von verpassten Entscheidungen
Man kann den entscheidenden Moment, in dem etwas möglich ist, verstreichen lassen. Der Bundestag ist zu furchtsam, einen Verbotsantrag gegen die AfD zu stellen. Und unverständlicherweise haben weder er noch eine Landesregierung bisher in Karlsruhe einen Antrag auf ein politisches Aktionsverbot gegen Neonazis wie Björn Höcke gestellt. Und der Verfassungsschutz will vor der Bundestagswahl nicht mehr darüber entscheiden, ob die AfD als „gesichert rechtsextrem“ einzustufen ist. Das alles ist sträfliche Passivität, das ist Indolenz, das ist ein Verrat an der Wehrhaftigkeit der Demokratie, die den Müttern und Vätern des Grundgesetzes so wichtig war.
Das, was wir Geschichte nennen, ist nicht allein eine Reihe von Entscheidungen, es ist auch eine Reihe von verpassten Entscheidungen. Betrachtet man die Geschichte von Kriegen, so könnte man verzweifeln wegen der verpassten oder auch verratenen Gelegenheiten zum Waffenstillstand, wenn also der Riss da war, nämlich die Einsicht, dass schon zu viele Menschen gestorben sind, aber ein Ende nicht in Sicht ist. Trotzdem verlängerten Kriege sich immer wieder durch sich selbst – weil man sagte, es seien schon zu viele gestorben, um aufzuhören, und weil man Konzessionen als Verrat an den Opfern erklärte. Der Weg zum Frieden ist nie ein Sommerspaziergang; ob man sich für Gewalt entscheidet, so wie die Alliierten sich zum Krieg gegen Nazideutschland entschieden, oder ob man sich gegen Gewalt entscheidet, um der Gewalt Einhalt zu gebieten, so wie Gandhi sich zum passiven Widerstand gegen die britische Kolonialmacht entschied: Es gibt keinen unmittelbaren Frieden. Der Ausgang ist ungewiss. Gewiss ist in beiden Fällen: Es gibt eine Eskalation der Gewalt, es gibt Menschen, die den Frieden nicht mehr erleben.
Trotzdem: Es gilt, immer und immer wieder, den Spalt, den Riss zu nutzen – „that’s how the light gets in“! Der Riss ist die Stelle, wo die Veränderungen ansetzen müssen.
Hinweis: Diese Kolumne erschien zuerst am 14.11.2024 in der Süddeutchen Zeitung.