Die Sozialdemokraten verstecken ihren Fraktionsvorsitzenden Rolf Mützenich und tun so, als müsste man sich für dessen friedenspolitische Positionen genieren. Aber vielleicht schwindet die Macht der Partei ja genau deshalb.
Kolumne von Heribert Prantl
Rolf Mützenich ist keine politische Rampensau. Er ist auch keiner, der die Leute besoffen reden kann. Der große Auftritt ist ihm eher peinlich. Er ist ein ausgesucht höflicher und bescheidener Mann, gewissenhaft und zuverlässig. Wenn man nicht wüsste, dass er seit fünf Jahren der Fraktionschef der Kanzlerpartei SPD ist – man würde es nicht glauben: Der Mann twittert nicht, er geht in keine Talkshows. Mit geostrategischen Perspektiven kennt er sich weit besser aus als mit Tiktok, dem Portal für Kurzvideos. Seine Welt ist der Bundestag, in dem er seit dem Jahr 2002 Politik macht und seine Politik erklärt. „Mütze, erklär mal“ ist zum geflügelten Wort geworden; Peter Struck, Verteidigungsminister und ein Vorgänger Mützenichs als SPD-Fraktionschef, hat es respektvoll geprägt. Mützenich ist nämlich einer, der die komplexe Welt der internationalen Beziehungen übersichtlich machen kann. Aber seine Gaben waren schon einmal gefragter als heute, auch in seiner Partei.
In den militärischen Zirkeln wird er, der „grundsätzliche Zweifel“ am Konzept der atomaren Abschreckung hat und der, wie soeben, vor der Stationierung von weitreichenden US-Raketen in Deutschland warnt, mit Chamberlain und dessen Appeasement-Politik gegenüber Hitler in Verbindung gebracht. Weil er vor der nuklearen Gefahr auch dann warnt, wenn es dabei um die Abschreckung gegen Putin geht, wird er von seinen Gegnern als „irrlichternd“ bezeichnet.
Das ist falsch. Mützenich irrlichtert nicht, er lichtert; und er lichtert schon immer so; er widerlegt dabei die Vorurteile, die es über Politiker gibt, weil er bei seinen Überzeugungen und Erfahrungen bleibt, ob die gerade gern gehört werden oder nicht. Seine Themen waren und sind die Warnung vor atomarer Hochrüstung und die Werbung für weltweite Abrüstung. Er erinnert an das gern unterschlagene Risiko, dass Deutschland Ziel eines atomaren Erstschlags werden könnte. In Mode sind solche Warnungen derzeit nicht; aber Mützenich ist Experte auf diesem Gebiet, und er kann klug darüber reden und profund darüber schreiben. „Wir erleben gegenwärtig eine zweite Phase atomarer Hochrüstung“, so hat er schon 2008 in den Blättern für deutsche und internationale Politik dargelegt und diese Entwicklung in Russland, den USA, in Großbritannien, Frankreich, China, Indien, Pakistan und Nordkorea glasklar analysiert. Die Konturen des neuen nuklearen Zeitalters seien „bereits abzusehen“. Es sind heute schon mehr als Konturen. Die Umrisse werden gefüllt.
Vor 16 Jahren war noch eine gute Zeit für die Warnungen: Barack Obama, damals noch US-Präsidentschaftskandidat, hatte am 24. Juli 2008 an der Berliner Siegessäule vor zweihunderttausend Menschen seine umjubelte Rede gehalten: „Jetzt ist die Zeit gekommen, erneut nach einer Welt ohne Atomwaffen zu streben“, hatte er gerufen und gefordert: „Nach dem Fall der Mauer können wir nun nicht tatenlos der weiteren Verbreitung der tödlichen Atomwaffen zusehen.“ Es sei an der Zeit, den heimlichen Handel mit Nuklearmaterial zu unterbinden, die Verbreitung der Atomwaffen zu stoppen und die Arsenale aus einer früheren Epoche zu verkleinern. „Jetzt ist die Zeit gekommen, auf eine Welt hinzuarbeiten, die Frieden ohne Atomwaffen zu schaffen versucht.“ Leider ist die Zeit nicht gekommen. Mützenich konstatiert: „Statt eine neue globale Ordnung zu schaffen, in der Staaten gemeinsam die großen Probleme zu lösen versuchen, marschieren viele wichtige Mächte zurück in die Welt des 19. Jahrhunderts“, in die Welt der Nationalstaaten, in der alte und neue Mächte „offener denn je pure Interessenpolitik“ betreiben. Mützenich schreibt dies 2022 in einer Festschrift für den chinesisch-deutschen Politikwissenschaftler Xuewu Gu, der an der Universität Bonn lehrt und dort Direktor des Center for Global Studies ist.
Dem Sohn aus einer Kölner Arbeiterfamilie war die Friedenspolitik nicht in die Wiege gelegt. Er ist einer der wenigen klassischen Sozis, die es in der Führung der SPD noch gibt: Geboren auf der „schäl Sick“, also der falschen Seite des Rheins, nämlich in Köln-Kalk, in kleinen Verhältnissen aufgewachsen, Vater Maschinenschlosser, Mutter Hausfrau, mit 16 Sozialdemokrat und Fliesenleger geworden; dann auf dem zweiten Bildungsweg Abitur gemacht, bei arrivierten Sozialdemokraten Büros und Wahlkämpfe organisiert, beim norwegischen Friedensforscher Johan Galtung studiert und seine 382 Seiten dicke Doktorarbeit geschrieben. Deren Thema „Atomwaffenfreie Zonen und internationale Politik“ ist sein Lebensthema geworden.
Mützenich warnt davor, dass US-Langstreckenraketen auf deutschem Boden atomar bestückt werden könnten
Als Fraktionsvorsitzender ist er jetzt der Kärrner der schwindenden Macht der SPD. Vielleicht schwindet diese Macht, gemessen in schwindenden Wahlprozenten, auch deswegen, weil die Partei des Kanzlers Scholz ihren Mützenich versteckt, weil der Ampel-Chef und die Parteiführung so tun, als müssten sie sich für die friedenspolitischen Positionen ihres Fraktionschefs genieren. Der Erhard-Eppler-Kreis, zu dem unter anderem der frühere SPD-Bundesvorsitzende Norbert Walter-Borjans gehört, hat das soeben heftig gerügt. Mützenichs Plädoyer, „abseits des Schlachtfeldes Wege zu einem Frieden der Kämpfe in der Ukraine zu suchen“, müsse in der Parteiführung und vom Kanzler aufgenommen und diskutiert werden. Das darf man sich auch dann wünschen, wenn man Mützenichs Positionen nicht teilt. Wer sich dem nämlich verweigert, darauf weist der Kreis um Walter-Borjans hin, muss erklären, wie er den Krieg beenden will, ohne das Schlachtfeld auszuweiten. Verteidigungsminister Boris Pistorius weist darauf hin, dass die US-Langstreckenraketen, die in Deutschland aufgestellt werden, nur konventionell bestückt sind. Mützenich warnt davor, dass sie atomar bestückt werden können.
Es geht um das Ringen um den richtigen Weg. Dieses Ringen gehört zur Demokratie und es wäre, es ist gut, wenn die SPD zeigen kann, dass in ihr sowohl ein Pistorius Platz hat als auch ein Mützenich. Beiden geht es um die Sicherheit Deutschlands. Pistorius wirbt für die Notwendigkeit und die Ansprüche militärischer Abschreckung. Mützenich erinnert an deren Gefahr und innere Widersprüche. Früher hätte man gesagt, so ein Spektrum kennzeichnet eine Volkspartei. Dieses Wort will einem kaum noch über die Lippen, wenn es um die SPD geht. Wenn das jemals noch einmal anders werden soll, muss diese Partei das Mützenich-Pistorius-Spektrum ausleben – andernfalls geht das Leben dieser Partei verloren. Der Frieden ist eine zu ernste Sache, um ihn allein den Parteien an den politischen Rändern zu überlassen. Die SPD hat also eine Mützenich-Chance.
Hinweis: Diese Kolumne erschien zuerst am 01.08.2024 in der Süddeutchen Zeitung.